Das wahre Leben

Werbesprüche auf Plakatwänden sind nicht immer treffsicher. Wenn man ein paar Sekunden darüber nachdenken muss, ist ein Spruch misslungen. Er muss sofort einschlagen. Manchmal sind sie auch zwiespältig, wie im folgenden Fall …

Gesehen am 7. Januar an der Busstation vor dem Flughafen Zürich:

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Es ist die Werbung einer Versicherungsgesellschaft, die — warum auch immer — Lebensfreude verkaufen möchte. Versicherungen wollen heute positiv sein (auch wenn positiv nicht mehr so gut klingt wie früher) wie die Krankenkassen auch, und darum geben sie sich geradezu krampfhaft positiv, weil der Kunde das vielleicht mag. Das Leben ist schön! Ein toller Tag, wollte man hier oben sagen, sei Ausdruck des wahren Lebens.

Na ja, das ist natürlich krumm und schief, und es wird zuviel vorausgesetzt. Das wahre Leben ist wohl ein Leben der Höhepunkte., ist das Peak experience von Abraham Maslow. Ein Höhepunkt möge sich an den anderen reihen, so wünscht man es sich. Und ein Tag, der im Flug vergeht, gilt allgemein als ein überaus schöner Tag, weil die immer wie im Flug vergehen.

Doch der Spruch passt auch in die Galerie von manipogo. Alle 80- 016oder 90-Jährigen im Pflegeheim sind sich einig: Schnell ist es vergangen, das Leben. Wie im Flug. Wir haben noch Jahrzehnte vor uns, die halbe Ewigkeit, doch wenn sie langsam verronnen sein werden, wird das Leben wie im Flug vergangen sein. Anscheinend sinkt die Vergangenheit wie in einen tiefen Brunnen, und die Länge eines Lebens verkürzt sich uns auf die Gegenwart, so dass man meint, plötzlich hier gelandet zu sein wie ein Außerirdischer.

Unser Bewusstsein muss sich immer mit Paradoxien herumschlagen, es ist anscheinend so gebaut, aber durch die Erfindung der Zeit haben wir ihm ein unlösbares Problem gestellt: Sie ist objektiv und subjektiv zugleich, entgleitet uns dauernd und gibt uns Rätsel auf. Auch ohne Uhren mit Zeigern ist sie da und schaut uns an.

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