Der vierte Trieb
Es war zur Zeit der Fasnacht, also vor zwei Monaten, dass die Klosterwald-Hexen das Pflegeheim besuchten. »Weshalb die Besen?» fragte ich. »Fürs Fliegen«, kam als Antwort. Die Hexensalbe! (Aus Petersilie, Nachtschatten, Eisenhut, Bilsenkraut. Fiel mir aber nicht ein.) Der Fasnet-Umzug in Bad Krozingen war, Betrunkene traten auf … und passend dazu fiel mir danach mein Exzerpt des Buches Intoxication von Ronald K. Siegel in die Hände. Berauschtsein!
Das Sich-Berauschen nannte der Autor neben Essen, Trinken und Sex den »vierten Trieb« des Menschen. Vielleicht die wichtigste Stelle ist die folgende:
Sich berauschen zu wollen ist nicht mehr abnormal, als nach Liebe, sozialen Kontakten, aufregenden Erlebnissen oder Macht zu streben — oder nach irgendwelchen anderen angelernten Zielen. Die primären biologischen Bedürfnisse des Menschen mögen sich auf den Körper beziehen, aber seine erworbenen Abhängigkeiten gehen weit darüber hinaus.
Ronald K. Siegel (1943-2019) war ein Pharmakologe und Professor für Psychiatrie. Er erforschte eingehend die Wirkung von Drogen auf den Menschen. Drei seiner sieben Bücher habe ich gelesen; auch die anderen wären es wert gewesen, denn Siegel konnte schreiben und verstand es, sich verständlich zu machen.
Unser Nervensystem sei verwandt mit dem der Säuge- und Nagetiere und reagiere auf chemische Giftstoffe genauso wie auf die Belohnungen durch Essen, Trinken und Sex. Gebe man Rentieren Fliegenpilze zu fressen, schwenkten sie den Kopf hin und her, deutliches Zeichen für Halluzinationen. Elefanten, die einprozentiges Äthanol eingeflößt bekamen, bewegten die Ohren, schwankten und lehnten sich an. Die drei Rhesusaffen Alex, Claude und Leroy bekamen normale Zigaretten zu rauchen, dann aber auch solche mit dem halluzinogenen DMT; und sie entschieden sich eindeutig für die DMT-Zigaretten.
Das Sozialverhalten von Fischen und Vögeln unter Drogen wird gestört: Sie sondern sich ab. Siegel hebt hervor, dass Indianer eine gute Balance beim Koka-Gebrauch gefunden hätten. Sie vermeiden die Überdosierung und kauen Koka, ohne es zu übertreiben. Koka findet sich in 250 Pflanzen und hat eher psychologische Veränderungen zur Folge: erweitertes Bewusstsein, verstärkte Aggressivität. Siegel meint, alle bewussten Wesen hätten im Laufe der Evolution ein Warnsystem gegen giftige Substanzen entwickeln müssen, doch da Drogen auch gute Gefühle schenken, hat der Mensch ihnen gegenüber eine Liebe-Hass-Beziehung.
Marihuana, Cannabis, Haschisch, LSD waren verbreitet nach den 1960-er Jahren. Die Verbote führten zu einem Untergrund-Handel und astronomischen Preisen. Später verbreiteten sich die Pillen. 2016 starben in den USA 50.000 Menschen an Fentanyl und ähnlichen Stoffen, die schon in winziger Dosis tödlich wirken können. In seinem Buch erwähnt Ron Siegel (1989), dass in den USA jedes Jahr 125.000 Menschen an den Nebenwirkungen von Medikamenten sterben. Wir seien immer noch dabei, unsere Bedürfnisse auszuloten, und manchmal diene das Sich-Einwerfen von »Giften« einem legitimen medizinischen Zweck.
Als ich 2015 das Placebo-Buch schrieb, stieß ich auch auf eine unglaublich hohe Zahl von Toten durch Nebenwirkungen von Medikamenten: mindestens 20.000 im Jahr in Deutschland. Wenn ich manchmal die Liste der Arzneimittel sah, die manche Bewohner im Pflegeheim jeden Tag verabreicht bekamen — manche 10 am Morgen, 3 am Mittag, 8 am Abend —, dachte ich mir, angelehnt an Voltaire: Der Mensch ist zäh und hält diese Attacken erstaunlich lange durch. Aber dann kommt manchmal doch etwas durcheinander, denn wie eine Substanz bei jedem Einzelnen wirkt, weiß man nicht, und eine Kombination von Substanzen macht den Heilversuch zum Glücksspiel.