Provoziertes Leben
Gottfried Benn wird heute keiner mehr kennen. Er war Arzt sowie ein großer Lyriker und Stilist. 1949, im ausgehungerten Berlin, versammelte er Aufsätze aus früheren Jahren in einem Buch, und einer heißt Provoziertes Leben und befasst sich mit dem Drang der Menschheit zur Droge und zum kompletten Ausdruck. Benn verstand das; die meisten seiner Kollegen nicht.
Er ist in Berlin im Juli 1956 gestorben, sechs Wochen vor Bertolt Brecht. Als erstes spricht Benn in Provoziertes Leben über den Film Hosianna, in dem sich Schwarze in Ekstase singen. Dann geht es weiter:
Von den Indianern wird ähnliches erzählt, der »Große Nachtgesang« ist eines ihrer Hauptfeste, die Männer fassen sich an, bewegen sich rhythmisch und geraten in Trance. Primitiv ist offenbar die Nähe von Rausch und einem nahen Übergang in ein kollektiv gesteigertes Existenzgefühl. … Den Riten- und Bewegungs-, den Rhythmus-Trancen stehen die pflanzenentbundenen Steigerer und Rauscherzeuger gegenüber, ihre Verbreitung ist weit universaler. Mehrere Millionen Erdbewohner trinken oder rauchen indischen Hanf, unzählige Geschlechter, durch zweitausend Jahre. Dreihundert Millionen kauen Betel, die großen Reisvölker würden eher auf diesen als auf die Arekanuss verzichten, mit Kauen aufhören heißt für sie sterben.
(Rechts oben: Vorbereitung auf den Regentanz im Oraibi Village, Arizona, 1907. Dank an Library of Congress, Wash. D.C.)
In Ekuador nehmen sie Coca, das »Kraut der Gräber«.
Stunden erfüllen sich mit gestillten Begierden, ala wesenloses Leben dahinzudämmern. Wer das tierisch nennt, verkennt die Lage: es ist unter dem Tier, weit unter den Reflexen, hin zu Wurzel, Kalk und Stein. Nicht Überdruss am Ende einer Rasse, nicht Entartung kann hier vorliegen, es sind ja frühe Völker, sonder etwas Primäres: Abwehr gegen das beginnende Bewusstsein, seine sinnlosen imperativen Projekte — verändern also die Raumverhältnisse, verlöschen die Zeit, auswehen das grauenvolle Rinnen ihrer Stunden.
Im Westen kam in der Neuzeit, erklärt uns Benn, das Ich auf, und es »trat nieder, kämpfte, dazu brauchte es Mittel, Materie, Macht«. Gegenüber dem Lebensgefühl auf Java zeigte sich etwas Brutales und Niedriges, und so kam es
zur Trennung von Ich und Welt, die schizoide Katastrophe, die abendländische Schicksalsneurose: Wirklichkeit. Ein quälender Begriff, und er quälte alle, die Intelligenz unzähliger Geschlechter spaltete sich an ihm.
Gottfried Benn sah 1949 in Berlin ganz klar. Verglichen mit dem Stammesleben früher Kulturen und dem Bilderrausch der Asiaten
kann es keinem Zweifel unterliegen, dass das, was die denaturierten europäischen Gehirne in ihren Berufsübungen, Interessenverbänden, Sippenzusammenrottungen, Sommerausflügen und sogenannten Festen an Lebensinhalt realisieren, das Platteste an Konvention und Verbrauchtheit darstellt, das die geschichtliche Überlieferung kennt …
Das ist und war stark! Auch heute, 70 Jahre später und in dieser Technik-Welt, die dir alles bietet, was du dir vorstellen magst, ist es deprimierend, womit sich Leute beschäftigen und worüber sie quatschen, was die Medien berichten und die Entertainer bieten: ein Verrat an dem, was der Mensch sein könnte. Benn resümiert und plädiert für die Droge:
Vor allem fehlt jede systematische Erziehungsarbeit in der Richung bewusster Vitalsteigerung, weil es ja eben der Epoche überhaupt an wahren Grundsätzen fehlt. Sonst käme sie darauf, durch den Ausbau visionärer Zustände, etwa durch Meskalin oder Haschisch, der Rasse einen Zustrom von Erkenntnissen und von Geist zu vermitteln, der eine neue schöpferische Periode aus sich entbinden könnte.
Er erwähnt die Entstehung von Rauschgiftbekämpfungszentralen und die befürchtete Schädigung der Gesundheit — Drogen, Räusche, Ekstasen klänge der Volksgemeinschaft infernalisch. (Zwanzig Jahre später kam es zu einem Feldzug gegen Drogen, LSD wurde verboten. All das stimmt auch heute noch.)
Der extravagante Körper (des Künstlers) habe mehr geleistet als der normale.
Vor diesen Maßstäben gibt es überhaupt keine Wirklichkeit, auch keine Geschichte, sondern gewisse Gehirne realisieren in gewissen Zeitabständen ihre Träume, die Bilder des großen Urtraums sind, in rückerinnerndem Wissen.
Illustrationen: Mitte, Stadt in Mittelitalien; rechts unten: Erinnerung, Bild von Rolf Hannes, Freiburg.