Ennio Flaiano

Zum 1. April etwas Schräges: ein paar Weisheiten von Ennio Flaiano (1910-1972), der die Drehbücher zu Fellinis Filmen La dolce vita und Otto e mezzo (8 ½) geschrieben hat. Er war ein Satiriker und anarchischer Denker, aber voll Gefühl und Menschenliebe. Und nachdenklich war er: eigentlich ein untypischer Italiener. 

_7_79b8b11bFlaianos Tagebuch der Irrtümer (1956-1972) hatte ich vor 20 Jahren in Rom mit Begeisterung gelesen. Er wurde in Pescara an der Adria geboren, kam nach Rom, wurde für seinen ersten (und einzigen) Roman ausgezeichnet und schrieb 60 Drehbücher, die von bekannten Regisseuren verfilmt wurden, außerdem Theaterstücke und Erzählungen. Übersetzen wir ein paar seiner Einfälle:

ucieczkaDieser Fluchtweg, wie Sie ihn nennen, steht in Wirklichkeit allen offen, und die Richtung, die ich vorschlage, ist klar: Der Weg kann nur die Liebe sein, aber nicht die hündische, zynische Liebe oder die absolute, totale Liebe, sondern die Liebe, die sich von selbst einstellt und sich den anderen zuwendet, die sich auch auf die Tage erstreckt und die Zeit, die wir gelebt haben, die die Freunde umfasst, die uns verlassen haben und die, die tot sind, die die Personen umfasst, die wir gekannt und die wir nicht gekannt haben. Dies ist sehr schwer in die Tat umzusetzen, nicht wahr? Weil man in eine Art Menschenfreundlichkeit verfällt, die nicht zu den philosophischen und materialistischen Konzepten dieser Zeit passt. Aber ich sehe keinen anderen Fluchtweg. … Ich möchte nicht, dass Sie mich missverstehen, die Liebe wird hier gesehen als ein Faktum von extremer Weitläufigkeit, extremer Göttlichkeit: eine Liebe, die vor allem die Möglichkeit umfasst, dass wir sie eines Tages nicht mehr ausüben können, da wir eines Tages davongehen und von uns eine Erinnerung zurücklassen müssen, die wenigstens einigermaßen anständig ist.
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Das kleine Bild: aufgenommen in einem Pflegeheim in Staufen)

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Denen, die die Göttliche Vorsehung heraufbeschwören und ihr danken, sei gesagt, dass es eine ebenso wachsame Göttliche Unvorhersehbarkeit gibt, die alle unsere Irrtümer, die Eisenbahnunglücke, die Schiffsuntergänge, die Erdbeben, die Blutbäder an Unschuldigen, den infantilen Wahnsinn, die Pest sowie die kleinen und großen Katastrophen verwaltet. Mit der Zeit gleichen sich Gut und Böse nach dem Gesetz der großen Zahlen aus; oder vielleicht gibt es sie nicht. Es gibt nur einen Verlauf der Dinge, der sich unserem Urteil entzieht. 

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Die Verwandlungen. — Ein Roman, in dem die Personen nicht die üblichen Abenteuer oder psychologischen Irrwege erleben, sondern in dem sie allesamt Opfer jener Verwandlungen werden, von denen wir heutzutage in den Zeitungen lesen. Die Heldin wird Mann und der Held entdeckt, dass er Päderast ist. Ihre Kammerzofe wird Schauspielerin und bekommt eine Audienz beim Papst. Die Nutte, eine glühende Monarchistin, gründet einen Literaturzirkel und wird Senatorin. Der Ingenieur entdeckt die Malerei und ruiniert sich damit. Ein Alter wird wieder zum Kind und verliebt sich in die Lehrerin, der sie ihn anvertraut haben. Der Häretiker sieht die Madonna, wird Conferencier und bekommt eine Invalidenrente. Ein kleines Mädchen schreibt Gedichte und bekehrt einen brutalen Mann, der es vergewaltigen wollte. Der brutale Mann, nun bekehrt, eröffnet seinerseits ein christliches Kollegium. Und alle — und das ist das Schöne an dem Roman — sind am Ende glücklich, weil das Glücklichsein in den Verwandlungen steckt, im Transit.

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Leben ist eine ununterbrochene Serie von Irrtümern, von denen jeder einzelne den vorhergehenden bestätigt und sich an den nachfolgenden anlehnt. Die Irrtümer zu Ende, alles zu Ende.  

 

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