Die Fliege

Ich übernachtete im Gemeindehaus des Ortes auf dem Boden der geräumigen Behindertentoilette, mit dem Schlafsack auf meiner Matte. Wenn ich mich bewegte, ging das Licht an wegen des Bewegungsmelders, außerdem gab es ein Dutzend Fliegen. Das nervte. 

2021-04-17-0001Ich packte also eine Landkarte und erschlug sie fast alle. Sie hingen an Türpfosten oder an der Wand.  Dann hatte ich Ruhe. Fliegen habe ich nie besonders geschätzt, sie summen nur blindlings herum und tragen Bakterien mit sich. Wenn es heiß ist, schwirren fünf Schmeißfliegen in meiner Küche herum. Beruhigt schlief ich wieder ein. Irgendwann mitten in der Nacht ging das Licht wieder an. Da ich auf dem Boden lag, hatte ich die Perspektive eines Kriechtiers. Da sah ich etwas.

Unter dem Waschbecken lief eine Fliege auf einen Kadaver hin, umkreiste ihn und machte sich an ihm zu schaffen. Es gelang ihr sogar, den Leichnam aufzurichten und vor sich zu halten. Dann ließ sie ihn wieder fallen und umkreiste ihn.

Plötzlich fühlte ich mich schuldig und war berührt von diesem Insekt. Fliegen haben gewiss kein Bewusstsein, denn sie wissen nicht, dass sie Fliegen sind; doch anscheinend hatte die Fliege bemerkt, dass mit ihrem Artgenossen etwas nicht stimmte. Sie begriff vermutlich, dass kein Leben mehr in ihm war. Vielleicht spürte sie sogar eine Art Trauer. Auch Ameisen und Bienen leben ja intensiv mit den anderen zusammen. Manchmal tanzen Fliegen auch gemeinsam oder umschwirren sich.

Der österreichische Robert Musil (1880-1942) hat einmal über Fliegen geschrieben. Er beobachtete ihren Todeskampf auf dem mit Leim bestrichenen Fliegenpapier Tanglefoot. Bedrückend. Lord of the Flies ist ein Roman von William Golding (1911-1993), der 1954 erschien und ihn einige Jahre später bekannt machte. 1983 erhielt er den Literatur-Nobelpreis.

Seit der Szene mit der trauernden Fliege scheue ich mich, Fliegen etwas anzutun. Ich warne sie vorher: Nerv mich nicht, ich will dich nicht töten. Danach wollte ich Genugtuung leisten für die Fliegen, die ich umgebracht hatte. Am nächsten Tag hielt ich an und dirigierte eine Raupe von der Straße weg, die sie überqueren hatte wollen. Ich schob sie zurück ins Gebüsch. Ich will ein paar Tiere retten, um meine Mordtaten vergessen zu machen.

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