Noch wach?

Meine Nichte gab mir zum Lesen den neuen Roman von Benjamin Stuckrad-Barre, Noch wach? Er erschien im April, umgeben von viel Hype, und nun hatte ich zum ersten Mal seit vielen Jahren ein richtig aktuelles Buch vor mir und tauchte ein, immer mehr gefesselt. Das ist ein richtiger Trip! 

819DmuIR0oL._AC_UY218_Anscheinend lag dieses Buch (oder liegt noch) stapelweise in den Buchhandlungen. Ist lange nicht mehr vorgekommen sowas. (Bei Amazon lag es am 24. August auf Platz 4641. Komisch, ich hatte mit einem Platz unter den ersten hundert gerechnet.) Es freut einen, denn es ist ein Roman, in dem der Held die Sprache ist, wie irgendein berühmter Autor mal forderte. Stuckrad-Barre, der als Ich posiert, hat alles drauf. Er ist ein echter Autor mit wilden Ausritten und glanzvoller Sprache und schildert pointiert, zuweilen poetisch und dann wieder schön sarkastisch, was er (vermutlich) erlebte; er betrachtet sich selbst und seine Aktionen von außen, analysiert sie und legt uns Interaktionen auseinander, bis eine Situation transparent wirkt; er stellt die Dinge in einen Kontext, macht sie verstehbar. Das kann gute Literatur. Total gute Metaphern liest man, und dann wird auch mitunter theoretisiert, und das nicht zu knapp und hoch abstrakt.

Und dann wieder ist er ratlos angesichts seiner Reaktionen und kommt zu dem Schluss:

Menschsein, es ist und bleibt die groteskeste Komödie überhaupt.

Die Handlung kristallisiert sich nach 100 Seiten heraus und wäre etwa beschrieben mit »Frauen im Fernsehen, konfrontiert mit sexgesteuertem Machtmissbrauch, wehren sich«. Das Feuilleton will eigentlich nur wissen, wer wer ist und wer mit wem was hatte, und das ist ein wenig dünn. Ein Nebenthema ist der heutige Sprachgebrauch der jüngeren Menschen in karrierepotenziellen Jobs, der Politiker, der Fernsehmacher: das Herumgeheuchel und das Alles-toll-finden-Müssen.

DSCN2013Nehmen wir die Episode im halb fertiggestellten neuen Fernsehgebäude. Daran geilen sich die Verantwortlichen auf und skizzieren ein irdisches Paradies, in dem Kreativität und Freiheit herrschen sollen, und sie tun dies mit den üblichen Phrasen und Formeln, gespickt mit englischen Parolen. Alle wirken wie unter Drogen, und man hat das Gefühl, der Sitzung einer Sekte beizuwohnen. Die Chefs quaken sinnlos vor sich hin, und die Untergebenen imitieren sie, um dazuzugehören. Theodor W. Adorno hat schon 1964 über den damals herrschenden (von ihm so genannten) Jargon der Eigentlichkeit gesagt:

Wer den Jargon plappert, auf den kann man sich verlassen; man trägt ihn im Knopfloch anstelle derzeit nicht reputabler Parteiabzeichen. …

DSCN0508Stuckrad-Barre liefert uns Einblicke in das fürchterliche, menschenverachtende Fernsehgeschäft, in der auch der Selbstmord einer Fußballerfreundin, der durch Fernseh-Hetze womöglich mitverschuldet wurde, dazu benutzt wird, weiter Quote zu machen. Der »Brüllsender« versendet Tag und Nacht aus einem Hochhaus in Berlin, der »Höhle der Blöden«, sein Gift, und es gibt dabei einen Chef, der Praktikantinnen umwirbt und sie nach erfolgter Eroberung entweder nach oben schiebt oder aber kaltstellt.

Ein nächtliches SMS-Angebot des Chefs ist ein teuflischer double-bind, bei dem man nur verlieren kann: Entweder die Frau lässt sich darauf ein, wird befördert und nach der nächsten, vielleicht noch hübscheren Kandidatin abserviert; oder sie lehnt ab und wird gleich abserviert. So wie in dem Buch Noch wach? beschrieben, wird es wohl in manchen Medienhäusern zugegangen sein und womöglich noch zugehen.Viel ist dagegen noch nicht unternommen worden, aber an der Zeit wär’s.

Die Frauen wehren sich und gehen gegen den Chef vor, das Buch nimmt Fahrt auf und steuert auf das Finale zu, das wir hier natürlich offenlassen.

 

 

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