Intelligenz ist etwas Einfaches

Ich nahm wieder einmal Krishnamurti zur Hand und fand ein schönes Kapitel, in dem er eine Frau vom Land tröstet, die meinte, sie sei nicht intelligent. Zu sagen »ich weiß nicht« sei schon ein Zeichen von Intelliganz, sagte der Weise; sie sei auf einem guten Weg.

Wie immer beginnt das Kapitel mit einer Naturschilderung.

Das Meer war sehr blau, und die untergehende Sonne berührte soeben die Spitzen der tiefhängenden Wolken. … Ein Dampfer am Horizont stand wie unbewegt, und eine sanfte Brise blies von Norden her. Es war eine Stunde von großer Schönheit und Stille, während Erde und Himmel zusammentrafen. Du konntest im Sand sitzen und die Wellen hereinkommen und hinausfluten sehen, endlos, und ihre rhythmische Bewegung schien sich über das Land auszubreiten. Dein Geist war lebendig, aber nicht wie das ruhelose Meer; er lebte und reichte von einem Horizont zum anderen. Er hatte keine Höhe oder Tiefe, war weder weit weg noch nah; es gab kein Zentrum, von dem aus man das Ganze abmessen oder eingrenzen konnte.

Das Meer, der Himmel und das Land waren alle da, jedoch gab es keinen Beobachter. Es herrschte großer Raum und maßloses Licht. Das Licht der untergehenden Sonne war auf den Bäumen, badete das Dorf und konnte jenseits des Flusses gesehen werden; aber dieses hier war ein Licht, das nie unterging, ein Licht, das für immer schien. Und seltsamerweise fand sich kein Schatten darin; du warfst deinen Schatten auf keinen Teil von ihm. Du schliefst nicht, du hieltest deine Augen nicht geschlossen, denn nun zeigten sich die Sterne; doch ob du die Augen schlossest oder sie offen hieltest, war das Licht immer da. Es war nicht dazu da, aufgefangen und in einen Schrein gesperrt zu werden.

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Eine Mutter von drei Kindern kam zu Krishnamurti. Sie hatte etwas auf dem Herzen, was sie nicht richtig sagen konnte. Sie war eine einfache, bescheidene Inderin, und ihre drei Söhne kamen im Studium gut voran. Sie lebten alle zusammen, und eines Tages werde sie zu einem von ihnen ziehen.

Ob sie ihre Kinder liebe?

Natürlich tue sie das. Wer liebe seine Kinder nicht? Sie fand die Frage ziemlich merkwürdig … Es habe sie Mut gekostet, hierherzukommen. Dann erzählte sie (und vermutlich kennen viele Frauen in Indien sich auch heute noch in dem wieder, was sie sagt):

Ich bin immer Zuhörerin gewesen. Ich hörte meinem Ehemann zu und seinen Geschäftsfreunden, wenn sie zu Besuch kamen. Ich habe meinen Kindern und meinen Freunden zugehört. Aber niemand schien je daran interessiert zu sein, mir zuzuhören, und meistens blieb ich schweigsam. … Ich hörte allen zu, öffnete mein Herz aber niemandem.

Und doch gebe es etwas, das sie beunruhige, auf das sie höre. Sie sei 45 Jahre alt, vor 5 Jahren sei ihr Mann gestorben, seither kümmere sie sich nur um ihre Söhne.

Füllt das Ihr ganzes Leben aus?

Nein, eigentlich nicht. — Krishnamurti versucht, diese Liebe zu analysieren und erreicht einen Umschlagspunkt. Die Frau gibt zu:

Ich habe nie wirklich geliebt. Ich hatte nie tiefere Gefühle für irgendetwas. Ich konnte sehr eifersüchtig sein, das war ein starkes Gefühl. … Das Sexuelle war auch sehr stark, ist nun aber völlig verschwunden. Das ist nicht gerade viel. … Vielleicht sind wir alle durchschnittlich und haben kleine Leben. Doch Sie müssen wissen, ich bin keine gebildete Person.

Durchschnittlichkeit oder Bildung sagen nichts, meint Krishnamurti. Sie klagt:

Aber ich habe nie viel nachgedacht, habe nicht viel empfunden; mein Leben war eine traurige Angelegenheit.

Wie kann Krishnamurti ihr neue Kraft geben? Er spricht von dem Feuer in uns, das zum Denken anregt. Seine Gesprächspartnerin erwidert, sie besitze keine Intelligenz.

Wenn sie sehe, dass ihr Leben klein gewesen sei und sie nicht viel geliebt habe, sei das schon die Bewegung der Intelligenz. Selbsterkenntnis ist der Anfang. Intelligenz sei harte Arbeit, und den wachen und ehrlichen Blick zu kultivieren, dazu brauche es Frische und Einfachheit, so Krishnamurti. Sie solle die Intelligenz in sich nicht blockieren oder leugnen. Wer sage »Ich weiß«, befinde sich auf dem Pfad der Nicht-Intelligenz. Etwas wissen wollen sei wie etwas anhäufen; damit werde man nie wissen. Die Frau:

Wenn man einfach sein kann und nichts weiß und dann als intelligent gilt, wäre das ja dasselbe wie Ignoranz.

Krishnamurti: Jemand Gebildetes und Talentiertes kann auch ignorant sein. Ignoranz herrscht, wenn jemand sich selber nicht kennt. Selbsterkenntnis ist Freiheit. Wer sagt »Ich weiß nicht«, ist auf dem Weg des Lernens. Intelligent zu sein heißt schlicht zu sein; doch schlicht zu sein ist ziemlich schwierig.

 

 

 

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