Der Mensch und sein Ort

Oder sollte ich sagen: Der Mensch und sein Platz? Paul Tournier (1898-1986), ein französischer Arzt und Psychotherpeut, nannte sein 1970 erschienenes Buch L’homme et son lieu. Lieu ist eigentlich der Ort; der Platz ist enger gemeint, könnte mein Schreibtisch sein. Dem deutschen Verlag (Herder, katholisch) hatte der Titel wohl zu wenig Gemüt, also nannten sie es Geborgenheit — Sehnsucht des Menschen. Schluchz.

Tournier und ärztliche Kolleginnen und Kollegen sprachen in den 1960-er Jahren, als viele Menschen viele Ideale hatten, von einer médecine de personne, die den Menschen in seiner Gesamtsituation betrachten wollte, »das heißt in seiner Beziehung zur Umwelt«.

Die Gesellschaft, die Welt, Gott, das gehört zu seinem äußeren Ort; sein Körper, seine Seele, sein Geist gehören zu seinem inneren Ort. Gott hat uns als eine Ganzheit erschaffen, er hat uns unseren »Ort« gegeben, er lenkt ebenso unser körperliches wie unser seelisches Leben.

20211215_150253Die Bewegung war also von einem christlichen Gedanken getragen und wollte den Menschen in der Klinik nicht nur als einen Fall behandelt wissen. Es gehe um »unsere Entfaltung im Leben«, um menschliche Fülle, die »eine Harmonie mit sich selbst erfordert«. Wer krank ist, muss seinen Ort aufgeben und eine Entwurzelung erleiden. Seine neuen Orte sind sein Krankheitszustand und vielleicht eine Klinik. Dort möchte er als Person anerkannt werden, um sich wohl zu fühlen. Geborgenheit wird sich nicht sogleich einstellen, aber der Kranke wird das Personal kennenlernen und zu ihm Vertrauen fassen. (Oben rechts: Gemeinschaft in einem Pflegeheim.)

Ein Arzt erzählte Tournier von einem tuberkulosekranken Patienten, der sich auf dem Weg der Besserung befand, als ihn die Behörde in ein angeblich »besseres« Krankenhaus überweisen ließ, wo es mit ihm rasch bergab ging. Er wurde nach Hause entlassen, schaffte es aber, in seine frühere Klinik zurückzukehren und wurde dort bald gesund. Beide Kliniken waren gleich gut, nur herrschte im ersten Spital ein »Gemeinschaftsgeist, so dass sich der Patient verstanden und aufgenommen fühlte, während er im andern eine Nummer, ein Fall war«.

DSCN0985Der Patient, der einen für ihn guten Ort gefunden hat, kann überall wieder Wurzeln schlagen, meinte der Autor. Er erzählte, dass eine Patientin nach dem Umzug seiner Praxis drei Monate brauchte, um sich wieder an sein neues Sprechzimmer zu gewöhnen. In Querencias hat manipogo schon über Menschen und Tiere und die Orte geschrieben, an denen sie sich wohl fühlen, und ein Sprechzimmer kam auch vor — das eines beliebten Arztes, der überraschend starb, wonach viele Patienten immer noch sein Wartezimmer aufsuchten. (Links: ein Sonnenplatz in St. Gallen)

Paul Tournier zeigte sich überzeugt:

Ja, man muss zuerst einen Ort der Zugehörigkeit gefunden haben, um ihn nachher aufgeben zu können.

Man springt ins Leere, aber man muss es mit Vertrauen tun. Es ist gut, wenn man sich durch irgendwen gestützt fühlt, und wenn Gott es ist: sehr gut. Alle brauchen wir eine Stütze. Wir haben ja zwei Nestrebungen in uns: Wir wollen uns individualisieren und abheben; doch wir wollen auch irgendwo dazugehören. Die Zugehörigkeit wird manchmal zu eng und führt zu Klaustrophobie; die Unabhängigkeit kann zu Agoraphobie führen: der Angst vor weiten, leeren Räumen. Diese Angst sei in uns allen, meint der Autor: »Wir haben Angst davor, uns plötzlich im leeren Raum zu befinden, ohne Stütze.«

Primo Levi schrieb in Die Untergegangenen und die Geretteten, in Auschwitz habe es kaum Erkältungen oder Grippe gegeben, und Magengeschwüre oder Geisteskrankheiten heilten,

dagegen litten alle permanent an einem Unbehagen, das noch den Schlaf vergiftete und keinen Namen hat. … Wahrscheinlich wäre es richtig(er), darin eine atavistische Angst zu erkennen, die in jedem eingeschriebene Angst vor dem »tòhu wawòhu«, vor dem wüsten und leeren Universum, das unter dem Geist Gottes zerdrückt wurde und in dem der Geist des Menschen abwesend ist: weil er noch nicht geboren oder bereits erloschen ist.

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