Rückkehr ins Leben (12): Der verschwundene Schatten
Die folgende Geschichte habe ich vor neun Jahren bereits erzählt — aber irgendwie distanziert und technisch, wie ich heute finde. Ich will es nochmal versuchen. Da steckt mehr drin. Ich las das Buch Soul Mountain noch einmal, das der chinesische Literatur-Nobelpreisträger von 2000, Gao Xingjang, 1990 veröffentlicht hatte. Es ist ein schönes Reisebuch, das im ländlichen China spielt.
Der Erzähler reist mit Rucksack und Reisetasche und hört von jemandem den Städtenamen Lingshan, und dieser Jemand erläutert, ling bedeute Seele oder Geist, shan einen Berg. So heißt denn auch das Buch, Seelenberg. Er erreicht sein Ziel und lernt dabei eine Frau kennen. Einmal blickt er zurück auf die Zeit vor der Reise: Ein Röntgenbild hatte bei ihm einen Schatten auf der Lunge gezeigt, und der Arzt sagte: Lungenkrebs. Ein paar Monate würden dem Mann noch bleiben. Er soll aber nun noch zwei seitliche Röntgenbilder anfertigen lassen; der Erzähler geht also ins Krankenhaus und erwatet sein Todesurteil.
Vorher saß er auf einem Hügel, den früher ein Friedhof und ein Krematorium krönten und las im Buch I-Ging, das ihm ein Freund empfohlen hatte. Das ist das 3000 Jahre alte Buch der Wandlungen. Es gibt 64 Hexagramme mit Erklärungen, und ein Bild geht durch eine kleine Veränderung ins nächste über, es ist ein Kreislauf (64 Bilder wie die Felder des Schachspiels), denn das Leben ist stetige Bewegung. Und manchmal ist es Illusion, ein Röntgenbild für ein ewiges Bild zu halten. Wir verändern uns doch, stündlich. Der Erzähler überlegt:
Ich sah ein, dass ich nicht auf richtige Weise gelebt hatte. Würde mir ein weiteres Leben gewährt, ich würde es definitiv anders leben, doch dazu wäre ein Wunder nötig. Ich glaubte nicht an Wunder, wie ich auch nicht ans Schicksal glaubte, aber wenn man verzweifelt ist, ist dann ein Wunder nicht alles, worauf man hoffen kann?
Der Arzt las die Diagnose, es ging zur Röntgenaufnahme, und er fühlt sich wie ein Mörder, gegen den alles spricht und der nur darauf wartet, dass der Richter das Todesurteil verkündet. Die Herbstsonne leuchtete verschwenderisch, und der Delinquent sieht aus dem Fenster und hält es für wunderbar.
Ich wusste nicht, wann es war, ich war mir dessen nicht bewusst, vielleicht war es, während ich aus dem Fenster den Sonnenschein sah, jedenfalls hörte ich mich leise Namo Amitofu rezitieren. … In der Vergangenheit hätte ich es für unmöglich gehalten, dass ich einmal beten würde. … Während ich auf das Todesurteil wartete, befand ich mich im Nichts, sah die Herbstsonne und wiederholte in meinem Herzen immer wieder Namo Amitofu.
Sein Schulfreund und Bruder gehen zum Arzt, denn die Röntgenbilder sind da. Dann hört er sie überrascht ausrufen:
»Was?«
»Nichts!«
»Schau nochmal nach!«
Der Arzt wirft die Arme hoch und lacht: »Ist das nicht wunderbar?« Persönlich überwacht er die zweite Aufnahme, zeigt sie seinem Patienten. Er sagt:
»Wenn da nichts ist, dann ist da nichts. Es ist verschwunden. Wie kann man das erklären? Nun, Erkältungen und Lungenentzündungen werfen einen Schatten, der verschwindet, wenn’s einem besser geht.«
Und was ist mit unserem Geisteszustand, kann der einen Schatten provozieren?
»Gehen Sie und leben Sie richtig, junger Mann!« sagte der Arzt, schwang in seinem Stuhl herum und entließ mich.
Worüber ich nun nachzudenken hatte, war das: Wie sollte und konnte ich mein Leben ändern, für das mir nun eine Gnadenfrist eingeräumt war?