Der dichte Wald

Die Furcht vor der Leere und der Schutzlosigkeit ist vielleicht auch die Furcht, zu verschwinden: eine Art Todesangst. Wir Menschen sind ja Überlebenskünstler und haben vielleicht noch nicht das Trauma unseres Beginns vergessen, das uns noch in den Genen steckt: die Zeit in einem gleichförmigen, ewigen Wald, von dem einmal der italienische Künstler Carlo Levi (1902-1975) sprach. 

In seinem Buch Angst vor der Freiheit wird er sehr anthropologisch und versucht, den Ursprung von Religion, Opfer, Liebe und Heimat zu ergründen. Wo kommen wir her? Aus dem Nichts, doch dann war nach der Schöpfung ein Alles da, ein Alles-in-Allem. Levi überlegt:

810Es existiert ein anfängliches Ungeschiedenes, das allen Menschen gemeinsam ist, ewig veränderlich, Wesen jedes Aspekts der Welt, Geist jeden Seins in der Welt, Erinnerung an jegliche Zeit der Welt. Von diesem Ungeschiedenen gehen die Individuen aus, angetrieben von einem dunklen Freiheitsdrang, sich abzuheben und Form anzunehmen, um sich zu individualisieren — und immer wieder zurückgetragen durch eine dunkle Notwendigkeit, sich an ihn wieder anzuheften und dort seinen Grund zu finden.

Die beiden Pole Sich-individualisieren-Wollen und Dazugehörenwollen sind das. Entweder wird es einem zu eng; oder man fürchtet, sich zu verlieren. Das könnte auch bei der Begegnung der Geschlechter eine Rolle spielen. Der Mann hat Angst vor der Frau und umgekehrt; am Anfang — wenn man spürt, dass es ernst werden könnte —, scheut man jede Begegnung, denn sich einzulassen, würde das Leben verändern und einen womöglich aus der Bahn werfen. Die anfängliche Distanz ist Selbstschutz — bis die gegenseitige Anziehung die Oberhand gewinnt.

Die Leere zu fürchten ist normal; doch haben wir nicht auch unsere Herkunft aus einem formlosen Zustand noch in den Genen? Carlo Levi variiert seine Ansicht:

DSCN0419Am Anfang aller Zeiten lag nach den Erzählungen ein Wald auf der Erde und bedeckte ihr Antlitz. Jenen dichten Ur-Wald, der voller Keime und Furcht war und jedes Gesicht verbarg, tragen wir in uns; in ihm beginnt die Reise; wir finden ihn mit seiner Angst mitten auf dem Weg: einen jugendlichen Wald von unbegrenzten Möglichkeiten.

Dieser Wald tritt uns etwa in Through the Looking-Glass von Lewis Carroll entgegen, einer Geschichte in seinem Buch Alice im Wunderland. Das Mädchen ist auf Schachfeldern unterwegs und sieht nach einem Feld einen recht dunklen Wald, in den einzutreten es sich scheut.

SDC10923»Das muss der Wald sein«, sagte sie nachdenklich zu sich, »in dem die Dinge keinen Namen haben. Ich frage mich, was aus meinem Namen wird, wenn ich hineingehe.« … So überlegte sie herum, bis sie den Wald erreicht hatte: Er sah sehr kühl und schattig aus. »Na, jedenfalls ist es ein starker Trost«, sagte sie, als sie unter die Bäume trat, »nachdem es so heiß war, in den — zu kommen, in den —, in den was?« fuhr sie fort … »Dann ist es wirklich passiert. Und jetzt, wer bin ich? Ich werde mich erinnern, wenn ich kann! Ich bin entschlossen dazu!« Aber entschlossen zu sein half ihr nicht viel, und nach langem Grübeln konnte sie nur sagen: »L, ich weiß, mein Name fängt mit L an!«

So könnte das gewesen sein. Die Urmenschen lebten im Wald und mussten sich und dann den Dingen Namen geben, um Informationen austauschen zu können. Allmählich wurde das Dickicht weniger bedrohlich; ein Wort, ein Name wirkt wie ein Zauber und bannt das Unbekannte. Man kann sich denken, wie furchtbar es ist, wenn jemandem der eigene Name nicht mehr einfällt: Die Demenz droht, die Auslöschung der Person. Man ist fremd in einer fremden Welt, die einem unverständlich bleibt. (Doch dann: der Name! Wir haben vermutlich viele Male gelebt, hatten mit jedem Körper einen anderen Namen, und nur unser Großes Selbst, das komplexe Über-Ich, zählt, und wie es heißt, wer weiß es? Es spielt vielleicht auch keine Rolle, wenn wir letztendlich wieder zum Göttlichen zurückkehren, in den großen Wald.)

Carlo Levi erzählt weiter:

wale2Es irrten die ersten Menschen, wie der Mythos es will, in dem formlosen Wald umher, bis sie an bestimmten Orten haltmachten, bestimmte Frauen liebten und bestimmte Götter verehrten. Es irren bis heute die Menschen im ewigen Wald umher und suchen eine äußere Sicherheit: eine Sicherheit, die sie mit der Unterwerfung und mit dem Tod bezahlen.

Denn Sicherheit um jeden Preis ist teuflisch. Man gibt sich freiwillig auf und folgt womöglich fanatisch der Ideologie der Mehrheit (wie die Deutschen dem Nationalsozialismus) oder duckt sich, um nicht aufzufallen. Jedoch den eigenen Egoismus durchzusetzen auf der Basis einer abstrakten Freiheit muss auch nicht richtig sein. Den eigenen Weg zu gehen, ohne jemandem zu schaden, erfordert Mut, aber es gibt keine Alternative.

 

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