Der Weg ins Freie

Keine Frage: Jeder kennt die Furcht vor dem Neuen, jeder Mensch ist bereits einmal umgezogen, hat den Job gewechselt oder andere einschneidende Veränderungen hinter sich. Die Transformation oder der Neubeginn, die manipogo gerne bespricht und geradezu feiert, tun oft weh; vieles bleibt zurück. Hier nur zwei Zitate von ungarischen Autoren, aus den Jahren 1944 und 1948.

Und dies auch nur, weil ich spontan angefangen hatte, das Buch Glück von György Konrád geb. 1933) zu lesen. (Anscheinend hatte ich das schon — und es vergessen. So ist das … Aber die Zitate unten sind neu! Um die Welt zu verstehen, genügt ein einziges gutes Buch, das man immer wieder lesen kann.) Danach warf ich noch ein paar Blicke in Land, Land von Sándor Márai (1900-1989). Im Titel fehlte das Ausrufezeichen! Denn lange ist man auf der endlosen See unterwegs und verliert die Hoffnung, bis endlich jemand ausruft: Land, Land!

polenKonrád war elf Jahre alt, als seine Eltern am 15. Mai 1944 durch die Gestapo abgeholt wurden. Danach erhielten die Kinder gegen Geld die Erlaubnis und Fahrkarten, um zu Verwandten nach Budapest zu reisen.

Hinter uns schloss sich die Tür des Elternhauses. … In einer Droschke fuhren wir zum Bahnhof, nur wenige Menschen waren auf der Straße. Wer uns sah, der sah, wollte es mir scheinen, gleichgültig vor sich hin. Niemand sagte etwas. Wir waren Schemen, noch dazu ordnungswidrige Schemen, auf einer Extratour, vorläufig noch ohne Begleitung von Bajonetten.(…)

Nach unserem Eintreffen in Budapest brachte ich die ersten Monate des Sommers 1944 in der im dritten Stock gelegenen Wohnung meiner Tante Gisella in der Hollán utca 36 vor allem auf dem Balkon zu. Von diesem Balkon aus hatte man einen Blick auf die Straßenecke, ich wartete darauf, dass meine Eltern vom Sankt Stephan Ring her auf dem Bürgersteig auftauchen würden. Sie kamen nicht. 

Damals hätten sie schon tot sein können. Vom 15. Mai bis zum 10. Juli rollten unaufhörlich Züge und transportierten 430.000 ungarische Juden nach Auschwitz, wo fast alle im Gas starben. Aber, o Wunder: Ein Jahr nach ihrem Verschwinden kamen die Eltern zurück und betrieben weiter ihr Geschäft, bis es von den Russen verstaatlicht wurde. Ihr Sohn erklärte, der Vorsehung größten Dank dafür zu schulden; doch sei die Gnade der Vorsehung auch Illusion, denn warum seien alle seine Mitschüler umgekommen, die »um nichts sündiger gewesen« seien als er?

Sein Landsmann Sándor Márai erzählt von der Zeit nach 1945 in Budapest, als die Russen regierten. Er hielt es nicht mehr aus.

Ich muss weg aus dem schönen, traurigen und klugen und bunten Budapest, denn wenn ich bleibe, verzehrt mich die aggressive Dummheit, die mich umgibt. Und mit mir nehmen muss ich etwas, das vielleicht eine fixe Idee ist: das Ich, die Persönlichkeit, von der es nur ein Exemplar gibt. Dieses Ich ist nicht besser oder tüchtiger — ja, womöglich schlechter und minderwertiger — als das Ich anderer; aber ich habe nur dieses eine. Und es gibt keine Idee, kein Ziel, das mich entschädigt, wenn ich dieses Ich verliere, wenn ich dieses andersartige Heimweh aufgebe … Weggehen, zu etwas hin — das war wie ein sonderbares, verkehrtes »Heimweh«. (Später, in der Fremde, hatte ich nie Heimweh.) Eigentlich war es kein »Heimweh«, was sich jetzt meldete, sondern Fernweh: nach der Erde. Und diese Sehnsucht war die gleiche nostalgisch quälende Unruhe wie das, was man Heimweh nennt. 

DSC00325Es ist nur das Ich, das man mitnimmt, auch beim Abschied von diesem Leben. — Dann sitzt Márai in einem Zug, der Budapest verlässt. Mit den folgenden Sätzen endet das Buch Land, Land.

Langsam rollte der Zug an. Augenblicke später lag die Brücke hinter uns, wir fuhren durch die gestirnte Nacht einer Welt entgegen, wo uns niemand erwartete. In diesem Augenblick empfand ich —zum ersten Mal im Leben — Furcht. Ich begriff, dass wir frei waren. Ich begann mich zu fürchten. 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.