Selbstliebe
Gestern kam die Selbstliebe zur Sprache, die immer für selbstverständlich gehalten wurde. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Und wenn ich mich nicht liebe? Zwei Gedankenanstöße dazu, einer aus dem Buddhismus, der andere aus der österreichischen Literatur.
Aus Die Lehren des Buddha:
Sich lieben
Eines Abends saßen König und Königin auf dem Dach ihres Palasts. Der König fragte seine Königin: »Ist Dir irgendjemand lieber als Du selbst?« Die Königin gab zur Antwort: »Wenn ich ehrlich bin, gibt es niemanden, der mir lieber wäre als ich selbst. Ist Dir denn jemand lieber als Du selbst?« Der König gab zur Antwort: »Wenn ich ehrlich bin, gibt es niemanden, der mir lieber wäre als ich selbst.«
Der König beschloss, sogleich zum Buddha zu gehen und ihm von der Unterhaltung zu berichten und seinen Kommentar zu hören. Der Buddha sagte: »Wenn Ihr alle Objekte außerhalb von euch erforscht, werdet Ihr herausfinden, dass keines Euch lieber ist als Ihr selbst. Wenn Ihr alle anderen lebenden Wesen erforscht, werdet Ihr herausfinden, dass keines Euch lieber ist als Ihr selbst. Wenn Ihr das versteht, liebt Ihr Euch wirklich. Und diejenigen, die sich wirklich lieben, werden nie wissentlich Anderen Schaden zufügen.«
δ δ
In dem großen Roman Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil (1880-1941), an dem er sein ganzes Leben geschrieben hat, lernt der Mathametiker Ulrich erst nach dem Tod des Vaters seine Schwester Agathe kennen. Wir erfahren, dass Ulrich
am Bett seiner von Reise und Ankunft ermüdeten Schwester zum erstenmal das Wort »Du bist meine verlorene Selbstliebe« gebrauchte; in einem Gespräch, worin er bekannte, die Liebe zum Ichsein wie auch zur Welt verloren zu haben, und das damit endete, dass sie sich als »Siamesische Zwillinge« erklärten.
Ulrich fragte: »Was bedeutet eigentlich der Auftrag: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹?«
Agathe sah ihn von der Seite an.
»Offenbar: Liebe auch den Fernsten und Allerunnächsten!« fuhr Ulrich fort. »Aber was will es heißen: wie dich selbst? Wie liebt man sich denn selbst? In meinem Fall wäre die Antwort: Gar nicht! in den meisten anderen: Mehr als alles! Blind! Ohne zu fragen und zuchtlos!«
»Du bist zu kriegerisch!« antwortete Agathe kopfschüttelnd. »Und wenn du dir selbst nicht genug bist, wie sollte gar ich es dir sein?« Sie sagte das in einem Ton, der zwischen dem heiter ertragenen Schmerzes und höflich gewendeten Gesprächen lag.
Aber Ulrich überhörte es, verblieb beim Allgemeinen und sah steif ins Weite. Er fuhr fort: »Vielleicht sagte ich besser: Gewöhnlich liebt sich jeder am meisten und kennt sich am wenigsten! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, hätte dann den Inhalt: Liebe ihn, ohne ihn zu kennen und unter allen Umständen. Und seltsam genug, wenn der Scherz erlaubt ist, fände sich auch in der Nächstenliebe wie in jeder anderen das Erbübel, vom Baume der Erkenntnis zu essen!«
Diesen letzten Satz, wie meint er den? Vermutlich will er sagen: Ich liebe jemanden, ohne ihn zu kennen, doch durch meine Liebe lerne ich ihn oder sie kennen, esse also verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis … und dazu muss angemerkt werden, dass der Ausdruck Er erkannte sie eine alttestamentarische Umschreibung für sexuelle Intimität ist. Näher kann man sich nicht kennenlernen. Es muss im Heilsplan vorgesehen gewesen sein.
Gnostische Autoren meinen, Adam und Eva seien verbannt worden, weil sie den Sex auf animalische Weise betrieben; es gebe hingegen auch eine keusche, heilige Art der Sexualität. Doch Tasache ist: Der Mensch bekam das Bewusstsein und den göttlichen Funken geschenkt und sollte sich auf Erden bewähren, durch harte Prüfungen, um geläutert eines Tages zurückkehren zu dürfen. Und lieben zu lernen — sich und andere —, ist das Wichtigste, das man lernen soll. Alles Andere ist danach leicht und kommt wie von selbst.