Requiem

Dies wird eine Ergänzung zu Sophie, der Tod und ich von vorgestern. Es wird gereist, Tote tauchen auf, und wieder erscheint ein Film von Wim Wenders. «Requiem« hatte ich gelesen von Antonio Tabucchi (1943-2012): ein schmaler Band, dem er den Untertitel »Eine Halluzination« gab. Der Autor und Erzähler fährt an glühendheißen Tagen in Lissabon umher und versucht, Treffen mit Toten abzumachen.

lisbon_old_town_portugal_tram-1279792Lissabon. Die Stadt und Portugal waren die zweite Heimat des Pisaners Antonio Tabucchi, der den portugiesischen Dichter Fernando Pessoa (1888-1935) verehrte. Der Roman Erklärt Pereira war Tabucchis größter Erfolg; er wurde mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt. Das Buch Requiem kam vorher heraus, 1991. Tabucchi schrieb es auf Portugiesisch, es wurde ins Italienische übersetzt und von dort ins Deutsche. Etwas eigenartig. (Der italienische Übersetzer fügte aus eigener Initiative eine Liste der im Buch erwähnten Gerichte an, denn gegessen wird darin viel und oft. Doch wichtig ist das nicht. Nur für Italiener.)

thlisbonDrei Jahre nach Requiem filmte Wim Wenders Lisbon Story, und in dem Clip mit der Gruppe Madredeus (sie wurde durch den Film bekannt) sehen wir Bilder aus dem Film (Rüdiger Vogler spielt Philipp Winter) und aus der Stadt. Irgendwie, denke ich, sind Lisbon Story, Requiem und Sophie, der Tod und ich verwandt. Viel Bewegung, aber auch viel Leerlauf; viel Atmosphäre und viel Gerede; Skurrilität als Selbstzweck.

Tabucchi oder der Erzähler spricht mit einem hinkenden Losverkäufer, einem Taxifahrer, einem Hausverwalter, mit dem er Billard spielt, mit einem Kioskbetreiber und mit anderen. Ist ja nett, aber auch etwas belanglos. Dann erkundigt er sich im 2. Kapitel auf dem Friedhof nach Tadeus Waclaw Slowacki und erfährt, dessen Grab trage die Nummer 4664, und im 3. Kapitel trifft er Tadeus selbst in dessen alter Wohnung an.

Komm näher, Angsthase, sagte er, das ist meine alte Wohnung, du hast hier gegessen, du hast hier geschlafen, du hast hier gefickt, und jetzt tust du so, als würdest du sie nicht wiedererkennen? Ganz und gar nicht, protestierte ich, ich bin gekommen, um gewisse Dinge zu klären, du bist gestorben, ohne mir etwas zu sagen, seit Jahren zerbreche ich mir den Kopf darüber, jetzt ist der Augenblick gekommen, es zu erfahren, ich bin jetzt frei, ich lebe in äußerster Freiheit, wirklich, ich habe sogar mein Über-Ich verloren, das Verfallsdatum ist abgelaufen, wie bei der Milch, es stimmt, ich bin frei und befreit, deshalb bin ich hier. Hast du schon zu Mittag gegessen? fragte Tadeus.

Wenn es heißt »ich bin jetzt frei«, spricht anscheinend in der Folge Tadeus. In dieser Passage hat der Autor vermutlich José Saramago (1922-2010) imitiert, den portugiesischen Nobelpreisträger von 1998, der gern Dialoge nur mit Kommas trennte, so dass man nicht mehr richtig weiß, wer was sagt. Und man weiß auch nicht, wer Tadeus ist. Ihn ließ Tabucchi in dem Büchlein Für Isabel erzählen und auf die Suche nach dieser Isabel gehen, die im Portugal der Militärdiktatur verschwand. Das Buch erschien 2013, nach dem Tod des Autors, und Isabel sucht er im Requiem auch, ein Treffen deutet sich an, doch mehr erfahren wir nicht.

Pessoa, Tabucchis Vorbild, schrieb unter sechs verschiedenen Pseudonymen, und auch Tabucchi versteckte sich hinter anderen Namen und ließ seine Protagonisten hier und dort auftauchen; er war ein Meister der postmodernen textlichen Hermetik, in der eins aufs andere verweist und zu einem »seltsamen Attraktor« zurückkehrt, stets selbstähnlich und geordnet inmitten des Chaos, wie es die Chaostheorie lehrt, die erst Anfang der 1960-er Jahre entdeckt wurde.

Pessoa_chapeuGanz am Ende treffen der Erzähler und Fernando Pessoa aufeinander und essen zusammen. Der längst verstorbene Dichter spricht über seine Kindheit, erwähnt Kafka und meint, als er von seinem Partner als Lügner bezeichnet wird, der seine Kritiker getäuscht habe:

Ihr Art von Aufrichtigkeit halte ich für eine Art Armut, die höchste Wahrheit besteht in der Fiktion, das war schon immer meine Überzeugung.

Vorher hatte Tabucchi (oder der Erzähler) geäußert:

Über das, was Sie mir gerade sagen, habe ich mir Gedanken gemacht, sagte ich, ich habe mein Leben damit verbracht, mir über Sie Gedanken zu machen, und jetzt habe ich genug davon, genau das wollte ich Ihnen sagen. … Sie brauchen mich nicht, sagte ich, erzählen Sie mir keine Geschichten, die ganze Welt bewundert Sie, ich habe Sie gebraucht, aber jetzt möchte ich aufhören, jemanden zu brauchen, das ist alles.

Die beiden trennen sich am Ende des 9. Kapitels, und das Buch endet. Vielleicht ging es Tabucchi nur um eine Abrechnung mit dem bewunderten Portugiesen. — Jemand hat einen das ganze Leben lang beeinflusst und stirbt (oder ist schon länger tot); und nun ruft man ihn symbolisch aus dem Hades herauf und konfrontiert sich in der Fantasie mit ihm, sagt ihm alles, was man ihm nie sagen hatte können. Das ist eine völlig legitime Aufarbeitung, und manchmal ist so eine nötig, um unbelastet weitermachen zu können.

 

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