Hände hoch!
Heute ist der Geburtstag meines Vaters, und an diesem Tag möchte ich ihm immer einen Beitrag widmen. Zu diesem hier hat er selbst beigetragen, finde ich, obwohl er schon seit 38 Jahren in der anderen Welt tätig ist. Die Geschichte folgt!
Am Heiligen Abend dachte ich viel an meinem Vater, dem früher dieser Abend so viel bedeutet hatte. Seine Blicke streiften immer wohlgefällig über die Geschenke seiner Kunden, die ihm damit ihre Wertschätzung gezeigt hatten, und so war sein Jahr ein Erfolg gewesen. Lange her ist das.
Am 25. Dezember flogen wir dann nach Rom. Ich saß am Gang, und rechts neben mir waren zwei blonde Mädchen (oder eher junge Frauen), wohl Touristinnen. Schön sahen die Alpen im Schnee aus. Irgendwann fiel mein Blick auf das Smartphone der jungen Frau am Fenster, und da stand deutlich lesbar: Руки вверх.
Spontan wandte ich mich an die beiden und fragte, ob sie deutsch verstünden. Ja, sagten sie, und ich erzählte ihnen: »Das waren die einzigen russischen Worte, die mein Vater kannte, weil er als junger Mann im Krieg war. Es heißt: Hände hoch!« Die beiden lachten, und eine gab mir zu verstehen, es sei der Name einer lettischen Pop-Band, und es stellte sich heraus, dass die beiden aus Lettland stammten, seit 20 Jahren in der Schweiz lebten und nun 5 Tage in Rom vor sich hatten.
Diese Worte auf dem Display waren für mich wie eine Botschaft meines Vaters, vielleicht eine Reaktion darauf, dass ich an ihn gedacht hatte. Es waren zwei Worte, mit denen wir beiden etwas verbinden, und überhaupt, Russisch löst bei mir Emotionen aus, vielleicht habe ich dort einmal viel Zeit verbracht.
Später suchte ich nach dem Namen und fand heraus, dass es eine russische Pop-Band war, die von 1996 bis 2008 existierte — und Sänger Sergej Schukow tritt neuerdings unter dem Namen Руки вверх, den wir Ruki verch oder Ruki vverh schreiben, solo auf, denn auf Youtube gibt es drei Konzerte aus diesem Jahr, und hier sehen wir 2 Stunden vom 22. Juli im Moskauer Olympiastadion. (Wer’s durchhält, hat einen Preis verdient … Schukow hält auf der Bühne endlose Monologe, und der Kameramann filmt chaotisch herum, als hätte er schon eine Flasche Wodka intus. Es ist absolut chaotisch, aber wir hören gute Dance-Musik, und toll ist es, so ein Konzert vor vielen tausend begeisterten Menschen …)
Wikipedia schreibt, es sei die erfolgreichste russische Band mit Dancepop gewesen. Sergej Schukow bietet auf Youtube einen Song an — und nach 7 Monaten hat er 10 Millionen Aufrufe, und Hörerinnen jubeln, das erinnere sie so sehr an ihre Kindheit. Wikipedia hat dafür nur zwei bis fünf Zeilen übrig.
Aus Russland dringt nichts zu uns. Das Land hat eine schlechte Presse. Auch sonst tut sich der Osten schwer. Wir sind völlig amerikanisiert. Drittklassige Filme aus den USA werden bei uns gezeigt, jeder Schrott kommt zur Aufführung, und Google, Amazon, Netflix, AirBnB und Starbucks haben sich Deutschland untereinander aufgeteilt, und alle schauen wie hypnotisiert zu.
Das ist aber ein relativ neues Phänomen. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte russischen und französischen Autoren — Dostojewski und Tolstoi sowie Balzac und Zola. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte den US-Amerikanern. Dabei hatte noch 1821, vor 200 Jahren, Sydney Smith in der Edinburgh Review geschrieben: »Wer in aller Welt liest schon amerikanische Bücher oder sieht sich amerikanische Theaterstücke an?« Mit James Fenimore Cooper (bald mehr über ihn), Herman Melville und Mark Twain emanzipierte sich die amerikanische Nation allmählich auch kulturell.