Mit 90 auf dem Fahrrad

Auch im neuen Jahr soll der eine oder andere Fahrrad-Beitrag erscheinen, und eine Stelle fand ich in meiner Reiselektüre, Erinnerungen an meine traurigen Huren von Gabriel García Márquez. Das hat er 2004 geschrieben, aus der Sicht eines 90-Jährigen, der er damals noch nicht war.

Der Erzähler, nur noch als Kolumnist für eine Tageszeitung tätig, erlebt im Bordell von Rosa Cobarcas ein 14-jähriges Mädchen, das er betrachten darf, während es schläft. (Den Text, der García Márquez inspirierte, kenne ich auch und bewundere ihn: »Die schlafenden Schönen« von Kawabata Yasunari. Ich habe auch darüber geschrieben!) Er verliebt sich in sie und stellt sich vor, sie lebe bei ihm. Am fünften Dezember wird das Mädchen, das der Alte Delgadina nennt, fünfzehn Jahre alt. Rosa meint, ein Fahrrad könnte sie brauchen.

036Sie zeigte mir im Schuppen das Fahrrad, das Delgadina benutzte, und ich fand das klapprige Gefährt tatsächlich einer so innig geliebten Frau unwürdig. Aber es rührte mich als greifbarer Beweis für Delgadinas Existenz im wirklichen Leben.
Als ich für sie das denkbar beste Fahrrad kaufen ging, konnte ich nicht der Versuchung widerstehen, es selbst auszuprobieren, und drehte ein paar müßige Runden in der Einfahrt des Geschäfts. Dem Verkäufer, der nach meinem Alter fragte, sagte ich mit der Koketterie des Greises: Demnächst werde ich einundneunzig. Der Angestellte sagte genau das, was ich wollte: Sie sehen aber zwanzig Jahre jünger aus.

Ich begriff selber nicht, wie mir die Übung aus der Schulzeit erhalten geblieben war, und fühlte mich von strahlendem Übermut erfüllt. Ich begann zu singen. Erst leise vor mich hin, dann aus voller Kehle, mit dem Gehabe des großen Caruso, zwischen den farbig wuchernden Basaren und dem wahnwitzigen Verkehr am öffentlichen Markt. … In jener Woche schrieb ich, dem Dezember zu Ehren, eine weitere kecke Glosse: Wie man mit neunzig auf dem Fahrrad glücklich wird.

Wir denken dabei an den Eisernen Gustav, Gustav Kilian, der mit über 90 Jahren noch täglich eine 50-Kilometer-Runde drehte und eine jüngere (70-jährige) Freundin hatte sowie an den »Adler von Adliswil«, Ferdy Kübler, der ebenfalls bis zu seinem Tod mit 96 sportlich blieb. Garcia Marquez‘ Erzähler hat übrigens am 29. August Geburtstag: wie meine Mutter. Immer wieder tritt mir dieser Tag entgegen (das ugandische Mädchen, dem ich die Schule finanziere, hat auch am 29. August Geburtstag. Das ist kein Zufall.) Gabriel García Márquez starb übrigens an dem Tag, an dem meine Mutter starb: am 17. April (2014). Er ist 87 Jahre alt geworden. Beinahe hätte er die 90 geschafft.

Eine andere Stelle mit einem Fahrrad fiel mir in dem Buch Die grünen Hügel Afrikas auf, das in ein paar Tagen behandelt werden will. Hemingway, der Autor, liest (1933 war das) in Afrika das Buch Sewastopol von Leo Tolstoi und schreibt:

Dann ließ mich Sewastopol an den Boulevard Sébastopol in Paris denken, wie ich auf dem Heimweg von Straßburg im Regen hinuntergeradelt war, und an die Glitschigkeit der Straßenbahngeleise und das Gefühl im Verkehr, im Regen auf dem öligen, glitschigen Asphalt und auf dem Kopfsteinpflaster zu radeln, und wie wir damals ganz dicht am Boulevard du Temple gewohnt hatten …

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Das Fahrrad, das wir oben sehen, steht im Museum des früheren Konzentrationslagers Mauthausen. Es ist eine Gabe des Polen Stanislaw Kudziński, dem es gelang, die Haftzeit zu überleben. Zwei Klosterschwestern aus Linz schenkten ihm das obige Fahrrad, mit dem er und zwei Landsleute sich auf den langen Weg heim nach Polen machten.

Meine Mutter hat mir einmal erzählt, wie man gut vorankommt, wenn zwei Menschen nur ein Fahrrad besitzen. Der oder die erste fährt einen Kilometer, lehnt das Fahrrad an einen Baum und geht zu Fuß weiter. Der oder die nächste schnappt sich, dort angekommen, das Fahrrad, überholt den Mitreisenden und stellt das Rad seinerseits wieder ab.

Bei drei Reisenden ist das schöner, da können sich zwei auf ihrem Fußweg zum Rad unterhalten. Ich habe mir das mit A, B und C überlegt. A setzt sich aufs Rad und braust los, B und C gehen plaudernd. Nach drei Etappen von jeweils einem Kilometer sind A und B ein Paar, kurzfristig. Ich stelle mir das als interessanten Reisetag vor, wenn die drei ein gutes Team sind.

 

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