Café Liebe
Vor einiger Zeit wohnte ich einem Neujahrskonzert in einer ehrwürdigen Kirche bei. Eine Musikkapelle spielte unter dem Motto All You Need Is Love ein schönes Gemisch aus Klassik und Pop. Der Vorsitzende gab zu Beginn eine Einführung, erwähnte das Gebot zur Nächstenliebe und auch die Selbstliebe. Ja, das tat er, ich erinnere mich noch.
Man hat ja nichts mit dem Smartphone aufgenommen, nur zugehört hat man, und den Wortlaut weiß ich auch nicht mehr. Aber der Herr erwähnte die Selbstliebe, das ist sicher; und er sagte vermutlich, dass sie legitim sei oder so. Sicher verteufelte er sie nicht, denn das wäre sonderbar gewesen, wenn auch angemessen in der Kirche, da Luther die Selbstliebe sehr wohl verteufelte. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (Römer 13,9-10): Da steckte keine Rabulistik (Haarspalterei) drin; der Prophet nahm einfach an, dass jeder sich liebt und bekräftigte mit der Sentenz die Nächstenliebe.
Früher wurde der zweite Teil, das »wie dich selbst« nie so betont. Man hätte das als schäbig empfunden. Man hat das Gefühl, dass heute immer mehr Leute sich das gern so zurechtlegen, um eine Rechtfertigung für ihre Ichbezogenheit zu haben: Wenn ich mich nicht liebe, kann ich auch keine anderen lieben. (Ob das richtig ist? Ich glaube nicht, dass sich Nächstenliebe und ein geringes Selbstwertgefühl ausschließen. Vielleicht erhöht man durch das Lieben sein Selbstwertgefühl? Wäre das verwerflich?) Ich spüre da leichtes Unwohlsein. Natürlich kann (und soll) man die Selbstliebe befürworten; aber so zu betonen braucht man sich auch nicht. Die heutige (Konsum-)Gesellschaft bedient sich also bei der Philosophie, um sich zu bestätigen. Ich bin gut zu mir; nur so könnte ich gut gegenüber anderen sein. Das Potenzial zum Gutsein ist da. Ausüben muss ich es nicht.
Im September vergangenen Jahres hatte ich die Selbstliebe durch eine Anekdote mit Buddha gutgeheißen. Als im November die Uganderin Maria mir gestand, sie liebe sich selbst, erzählte ich ihr die Anekdote, mit der mein Beitrag Selbstliebe beginnt. Ich sagte ihr: Das ist okay.
Nun sollten wir aber auch die Gegenseite hören, etwa Emanuel Swedenborg, der Anfang des 18. Jahrhunderts mit den Engeln redete.
In Himmel und Hölle schrieb er (556.):
Selbstliebe ist, sich allein wohlwollen und anderen nicht, außer um seiner selbst willen, nicht einmal der Kirche, dem Vaterland oder irgendeiner menschlichen Gesellschaft, sowie auch diesen Gutes tun bloß um des eigenen Rufes, der eigenen Ehre und des eigenen Ruhmes willen, sodaß, wer diese in den Diensten, die er ihnen leistet, nicht sieht, in seinem Herzen spricht: was liegt daran? Wozu dies? Was wird mir dafür? (…)
557. Aus dem Vergleich mit der himmlischen Liebe läßt sich entnehmen, welcher Art die Selbstliebe ist; die himmlische Liebe ist, die Nutzleistung um der Nutzleistung willen oder das Gute um des Guten willen lieben …; woraus folgt, daß, wer in der Selbstliebe ist, will, daß die Kirche, das Vaterland, die menschlichen Gesellschaften und die Mitbürger ihm dienen und nicht er ihnen; er setzt sich über sie und sie unter sich; daher kommt, daß inwieweit jemand in der Selbstliebe ist, insoweit er sich vom Himmel, weil von der himmlischen Liebe, entfernt.
Nun werden einige sagen: Diese Selbstliebe meinten wir nicht. Wir meinten eine unschuldige Selbstliebe, die andere Menschen nicht ausschließt. Alles Definitionssache. — Aus einer christlichen Seite, die sich auf die Bibel beruft:
Die Aussage „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist kein Gebot, sich selbst zu lieben. Es ist natürlich und normal, sich selbst zu lieben – es ist unsere Standardeinstellung. Es gibt keinen Mangel an Selbstliebe in unserer Welt. Das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« bedeutet im Wesentlichen, dass wir andere Menschen so gut behandeln sollen, wie wir uns selbst behandeln. Die Heilige Schrift befiehlt uns nie, uns selbst zu lieben. Sie geht davon aus, dass wir das bereits tun. Tatsächlich lieben sich die Menschen in ihrem nicht erneuerten Zustand zu sehr — das ist unser Problem.
In Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter gab es nur einen, der sich dem Bedürftigen gegenüber als wahrer Nachbar erwies: der Samariter (Lukas 10,30-37). Zwei andere, ein Priester und ein Levit, weigerten sich, dem Mann in Not zu helfen. Dass sie dem Verletzten keine Liebe entgegenbrachten, lag nicht daran, dass sie sich selbst zu wenig liebten, sondern daran, dass sie sich selbst zu sehr liebten und deshalb ihre Interessen in den Vordergrund stellten. Der Samariter zeigte wahre Liebe — er gab seine Zeit, seine Mittel und sein Geld, ohne an sich selbst zu denken. Sein Blick war nach außen gerichtet, nicht nach innen. Jesus veranschaulichte mit dieser Geschichte, was es bedeutet, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst (Lukas 10,25-29).
Das ist gut gesagt.
(Bild: Ausschnitt eines Gemäldes von Francesco Bassano, 1549-1592)
© © ©
Zwei Wochen vorher hatten wir einen Ausflug nach Ancona unternommen. Auf dem Rückweg fuhren wir am Meer entlang südlich und machten in Sirolo Halt. Oben in der Stadt entdeckten wir ein Café und genehmigten uns Cappuccino und Kekse. Das Café hieß Love. Nicht mal amore, sondern Love.
Ein programmatischer Name. Allerdings gab es keine Anzeichen dafür, dass hier etwas anders und liebevoller war. (Oder etwa liebestoll.) Der Kaffee war gut, die Plätzchen waren es ebenfalls. Nett war’s, aber nicht netter als woanders. Love ist für manche halt nur ein Wort.