Das Rad auf dem Aconcagua

Eine total verrückte Fahrrad-Geschichte fand ich in dem gestern vorgestellten Buch Für tot erklärt von Beck Weathers, der darin (wie wir wissen) seine Rückkehr vom Mount Everest nach dem Drama vom 10. Mai 1996 schildert. Vorher trainierte er: am Mount McKinley, am Chimborazo und am Aconcagua, der 6959 Meter hoch ist. 

Im Januar 1992 wollte Beck diesen Berg in den argentinischen Anden besteigen. Er war in Form. Am Tag vor dem Weg zum Gipfel, am Abend um 10 Uhr, lernten die 5 Bergsteiger Marty Schmidt aus Neuseeland kennen, der gerade zwei Polizisten hoch zum Berg und wieder hinunter geführt hatte. Schmidt, der ein Fahrrad über der Schulter trug, bat um ein paar Stiefel und verschwand. Mit dem Fahrrad. Beck Weathers erzählt:

Gegen fünf oder sechs Uhr am nächsten Morgen kam Marty zurück, ohne Fahrrad. Er gab die Stiefel zurück, zog wieder die Turnschuhe an und ging zur Plaza de Mulas zurück, um dort wieder seine Klienten zu treffen.
Später erfuhren wir die Geschichte von Martys bemerkenswerter zweifacher Besteigung des Aconcagua — er hatte zwei Tage lang nicht geschlafen. Das Ganze hatte an einer höllischen Strecke namens Canaletta begonnen, einem riesigen, 45 Grad steilen Hang aus losem Gestein und Staub knapp unterhalb des Gipfels.
bca140dafa6e27675be7b23fb93b9153Schmidt und die beiden Polizisten hatten Teile eines Fahrrads entdeckt, die über die ganze Canaletta verstreut waren: Ein Rad da, Pedale dort, die Lenkstange wieder woanders. Ich weiß nicht, ob Marty lange über das Rätsel nachdachte, das diese äußerst unwahrscheinliche Entdeckung aufgab. Da er praktisch veranlagt war, sammelte er die Teile, baute sie wieder zusammen, nahm die Maschine auf den Rücken und trug sie hinunter.
Die eigentliche Überraschung kam aber erst noch. Als er mit dem Fahrrad die Plaza de Mulas erreichte, baute sich ein völlig Fremder vor ihm auf und beschuldigte ihn wütend, sein Fahrrad gestohlen zu haben. …
Es stellte sich heraus, dass dieser Kerl Leute dafür bezahlt hatte, dass sie sein Fahrrad in Einzelteilen den Aconcagua hinauftrugen. Oben wollte er das Fahrrad wieder zusammenschrauben und dann vom Gipfel damit abfahren.

Marty machte ihm einen Vorschlag:

Sie hören auf, mich anzuschreien, dass ich Ihr Fahrrad gestohlen hätte, und ich bringe es dahin zurück, wo ich es gefunden habe.

Und genau das machte er in jener Nacht. Schmidt schleppte das Fahrrad den ganzen Weg bis kurz unter den Gipfel wieder hinauf, zerlegte es im Dunkeln, warf die Teile in die Gegend, und dann stieg er wieder ab. Von allem anderen abgesehen war das eine physische Tour de force. Marty Schmidt ist ein sehr fähiger Bergsteiger.

Das kann man wohl sagen. Ich habe bei Wikipedia nachgelesen: Martin Walter Schmidt wurde 1960 in Kalifornien geboren und bekam 1991 die neuseeländische Staatsbürgerschaft. Auf dem Gipfel des Aconcagua stand er 34 Mal, und 29 Mal bestieg er den Denali (Mount McKinley in Alaska). Seinem 1988 geborenen Sohn gab er auch den Namen Denali, und den gleichnamigen Berg bestiegen die beiden auf einer Route, die sie Dad and Son nannten. Schmidt gründete eine eigene Bergsteigerfirma und brachte Klienten auf die höchsten Gipfel der Erde. Zwei Mal (2012 und im Mai 2013) war Marty Schmidt oben auf dem Mount Everest. Am 27. Juli 2013 versuchte er mit seinem Sohn, den K 2 zu besteigen, doch eine Lawine fegte beide in den Abgrund.

9781942549413_p0_v2_s1200x630Schmidts Tochter Sequoia veröffentlichte 2015 das preisgekrönte Buch Journey of Heart: A Sojourn to K 2 über ihre Reise zu dem Berg, um das Schicksal ihres Vaters und ihres Bruders zu klären. Sie lebte in Los Angeles und hatte Neuseeland 10 Jahre nicht gesehen. 2018 erkundete sie ihr Geburtsland mit dem Rad und schrieb darüber Changing Gears: Ups and Downs on the New Zealand Road. Damals sagte sie einer Zeitung, ihre Beziehung zu ihrem Vater sei kompliziert und chaotisch gewesen. Sie sagte, erst spät sähen Kinder ein, dass ihre Eltern nur ganz normale Menschen seien und alles täten, was sie könnten. In dem Interview ergänzte sie:

Leider ist das etwas, das ich erst nach ihrem Tod begriffen habe, und es ist auch etwas, das unsere Beziehung weiter wachsen lässt, obwohl er nicht mehr am Leben ist — ich lerne aus dieser Beziehung immer noch fürs Leben. 

 

Bild oben: Ausschnitt aus dem Bild Jacques Tati und sein Fahrrad

 

 

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