Die erfundene Wolke

Manchmal blättere ich meine alten Notizbücher durch und finde Erhellendes aus Büchern, die ich gelesen habe. Ich finde; natürlich erfinde ich nicht. Doch diese Unterscheidung ist nicht immer einfach zu treffen.

Der Erfinder und der Entdecker. Ein Seemann entdeckt einen Kontinent. Er war schon immer da, man hat ihn sozusagen gefunden. Ein anderer baut aus verschiedenen Elementen etwas Neues zusammen, das unsere Welt beereichert und den Menschen hilft. Er hat etwas erfunden. Das kann auch durch Teamarbeit geschehen. Schöpfung allerdings (aus dem Nichts) ist jedoch das Werk eines einzelnen, meinte Jean Charon.

Gefunden/erfunden. In der Quantenphysik, der Welt der kleinsten Teilchen, verschwimmen die Unterschiede. Alles ist unbestimmt und unklar, und nur eines lässt sich sagen: Der Mensch wirkt ein. Seine Beobachtung (oder Messung) bestimmt über das, was er sehen wird. Wenn wir das auf unsere grobstoffliche Welt übertragen, bedeutet dies: Der Geist ist in der Lage, die Materie zu verändern. Gedanken sind wichtig.

Das hat der US-Amerikaner Michael Talbot (1953-1992) in seinem Buch Beyond the Quantum (1986; deutsch: Jenseits der Quanten, 1992) durch eine kleine Geschichte illustriert. Es mag das Gesellschaftsspiel bekannt sein, in dem ein Spieler eine Gruppe verlassen und vor die Tür gehen muss; die Gruppe einigt sich auf ein Wort, das der Proband herausfinden soll, wofür er zwanzig Fragen stellen darf. Ist es eine Pflanze? Ist es blau? Die Angesprochenen antworten.

Verlagshaus Herder, Freiburg im Breisgau

Verlagshaus Herder, Freiburg im Breisgau

Bei Talbot (und in der Quantenwelt läuft das so ab:

Stellen Sie sich beispielsweise vor, dass Sie in einen Raum eingeschlossen worden sind, während einige Ihrer Freunde ein schwieriges Wort auswählen, das Sie erraten sollen. Wenn Sie zurückkehren, bemerken Sie, dass alle grinsen. Sie vermuten, dass Ihre Freunde irgendeinen Unfug mit Ihnen treiben, aber trotzdem beschließen Sie, das Spiel fortzusetzen und beginnen Fragen zu stellen: »Ist es ein Tier?« — »Nein.« — »Ist es eine Pflanze?« — »Nein.« — »Ist es ein Mineral.« — »Nein.« — »Ist es ein Baum?« — »Nein.« — »Ist es weiß?« — »Ja.«

Während Sie mit Ihren Fragen fortfahren, bemerken Sie, dass jeder Spieler immer länger braucht, um zu antworten. Am Ende des Spiels haben Sie schließlich nur noch eine offensichtliche Wahl. »Ist es eine Wolke?« Die beteiligte Person denkt einen Augenblick nach und antwortet dann: »Ja.« Und alle brechen in Gelächter aus.

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Dann erklären sie Ihnen, dass alle übereingekommen sind, sich nicht auf ein Wort zu einigen, als Sie sich nicht im Raum befanden. Stattdessen hatten sie beschlossen, dass jeder so antworten würde, wie es ihm gefiel, unter der einzigen Voraussetzung, dass Sie sich ein Wort vorstellen würden, das zu allen vorangegangenen Antworten passen sollte, wenn Sie antworteten. Ansonsten hätten Sie verloren. Aber die Lösung, das Wort »Wolke«, existierte anfangs nicht, als Sie Ihre letzte Frage gestellt hatten.

Es wurde gefunden, indem es erfunden wurde. Es gibt nichts Objektives. Der Mensch wirkt entscheidend mit. Ich meine vielleicht, ich hätte etwas Objektives vor mir, wenn ich eine Kathedrale fotografiere. Doch schon durch die Wahl des Motivs habe ich etwas aus der Welt ausgewählt und den Dom für mich erfunden. Wir sind alle Erfinder.

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