Im Nachrichtenbunker

Ich denke zurück an die dpa und meine fünf Jahre in Hamburg (1986 bis 1991) . Ich war nicht mal dreißig, als ich dort anfangen durfte, und dann habe ich nebenher noch über Popmusik geschrieben und 100 Konzerte gesehen: Tina Turner, Joe Cocker, Z Z Top, Pink Floyd, die Eurythmics, Deep Purple … Doch ich war zu blöd, um Karriere zu machen. Später habe ich darüber geschrieben, literarisch. 

santiagoDie Erzählung heißt Ein Kommandante erbleicht, und es geht um meine Reise nach Chile Ende 1990. Ich besuchte einen Freund, der im Observatorium der ESA in La Serena arbeitete, und mit einem VW Passat fuhren wir das langgestreckte Land hinunter bis Punta Arenas. Einmal waren wir sogar im selben Hotel wie Patricio Aylwin (1918-2016; fast 100 Jahre ist er geworden!), der von 1990 bis 1994 der erste demokratisch gewählte Präsident Chiles war und den bösen Augusto Pinochet (1915-2006) ablöste.

In einem Teil geht es um den Großraum in Hamburg, dem Saal mit den 40 Bildschirmen, in dem wir schon vor 35 Jahren durch teure Standleitungen verbunden waren mit unseren Büros in den meisten Hauptstädten der Welt, noch bevor es E-Mails gab. Zwei Kollegen waren mir besonders lieb: Klaus Ballhorn und Dieter Basil. Ersterer starb schon im Mai 1991, das ist lange her, und Dieter wurde damals in die Rente verabschiedet, darum ist es unwahrscheinlich, dass er heute noch lebt (aber denken wir an Aylwin!).

Klepper ist Ballhorn, der Gitanes-Raucher, Lorsch ist Basil, der Kleine, Nette, und den wahren Namen von Senglein weiß ich nicht mehr. Wir belieferten damals die Agenturen in Österreich, der Schweiz, in Skandinavien und Benelux. Diese Redaktion wurde 1998 aufgelöst. In diesem Text habe ich meine Erfahrungen verarbeitet.

Wir denken daran: Der Erzähler hält sich in Chile auf.

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»Jetzt wär’s doch gut, im Großraum zu sitzen. Klepper, der kleine Rackerer, könnte Dienst haben mit mir. Sechs Uhr jetzt in Deutschland, die Nachrichten fließen spärlicher, viele Kolleginnen und Kollegen verschwinden, Klepper bleibt bis acht. Er raucht eine ›Gitanes‹, auch wenn Chef Inland jeden Abend provozierend das Raucherzimmer öffnet und die Aschenbecher zählt und, wenn er vorbeikommt, sagt: ›Vergessen Sie das hübsche Zimmerlein nicht, in dem Sie alle einmal sitzen werden!‹ Klepper mit dem Gesicht eines spanischen Granden ist so klein, daß er nicht über die Kante des Bildschirms schauen kann. Man hört ihn nur schnaufen, und er bläst eine Rauchwolke über die Kante, sie wallt hoch, bricht sich und gleitet als bläulicher Teppich über die Oberseite des Bildschirms — faszinierend, zuzusehen — und segelt dem Chef Inland, Reschkowski, vor den Latz, und, da er in strammem Schritt weitergeht, bäumt sie sich hoch und legt sich als Rauchlappen um sein Gesicht, und er geht trotzdem weiter, und husten tut er erst, als er hinter dem Trennelement zur Auslandsredaktion angelangt ist. Dann aber tut er es ausgiebig. Klepper zwinkert mit dem rechten Auge — mir zu, oder ist es nur sein übliches nervöses Zwinkern? Ich weiß es nicht.

Klepper kann sechzig Meldungen in der Schlange haben und weltvergessen eine nach der anderen bearbeiten, löschen, umformulieren, weitergeben, kürzen; und er könnte allein sein, er würde es schaffen. Ein Meldungsvieh. Ich glaube, ich liebe Klepper. Dann wird’s kameradschaftlich, gegen sieben. Man trinkt noch einen Kaffee oder holt sich Flaschenbier aus der Kantine. Ob sie das während meiner Abwesenheit abgeschafft haben? Ein Feature muß man eingeben für die Nacht. Ob das noch so ist? Dort im Bunker kann man sich beschützt fühlen gegen die Fährnisse draußen. Die Welt draußen, ihre Begebenheiten, kommt in Form von Worten zu uns, in Form von Zeilen, regelmäßig, auf dem Schirm. Eine Welt, die sich den Regeln der Agentursprache beugen muß. Nur was da erscheint, ist geschehen.

Auch andere Dinge geschehen, doch die sind wie nicht geschehen. Hinter der geschehenen Welt, der als geschehen wahrgenommenen Welt, lauert eine andere, lauern viele andere als nicht geschehen wahrgenommene Dinge. Geschehen doch, aber nicht als geschehen gesehen. Ich redigiere nur: nach den offiziellen Vorgaben, die mir in Fleisch und Blut übergegangen sind. Wer wie was wann wo — warum? Der Journalist soll Chronist der Zeit sein. Nichts als das. Er wirft sich als Verteidiger der Demokratie und der Meinungsfreiheit in Positur; und dann packt er doch das bißchen Macht, das er kriegen kann und rennt davon. Schade, daß Klepper um dreiviertelacht sich seine abgegriffene Ledertasche über die rechte Schulter wirft und sich davontrollt. Ich werde allein sein, sehr allein. Es gibt ein Leben draußen und ein Leben drinnen. Die Schnittstelle ist die Fahrt in der Untergrundbahn. Vom Kerker der Zentrale in den Kerker meiner Wohnung.

Das Leben im Bunker ist auch da in mir. Ich werde es nie wieder abschütteln können. Warum nicht? Vielleicht, weil ich es widerstandslos hingenommen habe, Jahr um Jahr, weil mir, wie immer, nichts Besseres einfiel. Tausend Tentakeln. Hundert Haken. Sechsundneunzig Saugnäpfe. Die Alliteration ist das einzige Stilmittel, das der Agenturmann sicher beherrscht. Klepper ist fort. Was mache ich nur die restlichen zwei Stunden bis zehn? Ich mache ein Weißbier auf und schlürfe Schaum. Die Meldungen, die ich wie ein Postbeamter sichte und weiterschicke, füllen am Ende ihres Wegs angeblich die Außenspalten von Zeitungen wie ›De Volkskrant‹, ›Helsingin Sangormat‹ und ›Der Bund‹. Ich muß es glauben. Mir bleibt nichts anderes übrig. Manchmal finde ich auch Spurenelemente meiner Tätigkeit: ein ›angeblich‹ in der vierten Zeile einer Meldung aus Kampala, abgedruckt unten auf Seite vier der ›Neuen Zürcher‹, oder den schlüssigen Hintergrundsatz ›Die Mauer durch Berlin fiel Ende 1989‹ in einer Meldung in den ›Salzburger Nachrichten‹ auf Seite sechs. Mein ureigener Beitrag zum deutschsprachigen Journalismus.

Rohl, das Überich, lauert dreihundert Meter von hier in seiner Wohnung. Am nächsten Tag wird er, der leicht Pummelige, wie ein Orang-Utan im Anzug herangeturnt kommen und mir die Arbeit von gestern vorhalten: Er geht sonst immer gravitätisch, die Jacke oft nur über die Schulter geworfen. Aber er kann ungeahnte Behendigkeit entwickeln, kann sich im Tänzelschritt um Hindernisse herumwiegen, der windige Wiener. Warum haben Sie neun Minuten für die Meldung aus New York gebraucht? Gute Frage. Ich habe natürlich mit Leghorn geplaudert und erst später gesehen, dass da was auf dem Schirm war.

Lorsch hatte einst Dienst mit mir bis zweiundzwanzig Uhr. Es war wenig zu tun. Plötzlich fiel ihm ein Gedicht von Brecht ein, ›Erinnerung an die Marie A.‹. Er zitierte die ersten Zeilen — ›An jenem Tag im blauen Mond September, still unter einem jungen Pflaumenbaum‹ — er schrieb das auf den Bildschirm, ›da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe, in meinem Arm wie einen holden Traum‹. Ja, und dann war die Wolke da. ›War ein Wolke, die war ungeheuer oben‹, — verstehst du, ungeheuer oben! — ›bis ich sie nimmer sah.‹ Er war sich nicht sicher, redigierte erst eine Meldung aus New York weg und machte weiter: ›Jetzt hab ich’s wieder: Sie war sehr weiß und ungeheuer oben, und als ich aufsah, war sie nimmer da.‹ Eine Stunde später war er beim dritten Couplet angelangt, ich hörte atemlos zu: ›Und auch den Kuss, ich hätt ihn längst vergessen, wenn nicht die Wolke dagewesen wär‹ — er zeichnet sie in die Luft, er schwitzt leicht, seine Augen glänzen, und unsicher tastend nähert er sich dem Ende: ›Jene Frau hat jetzt vielleicht ihr siebtes Kind. Doch jene Wolke blühte nur Minuten / und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.‹ Wir beendeten den Dienst, einig, zufrieden; es gab mehr als den Agenturunsinn, es gab Wolken, die ungeheuer oben waren, ›die weiß ich noch und werd ich immer wissen‹.

Ich werde diese zwei Stunden immer wissen und auch die kostbaren Minuten mit Senglein im Jazz-Salon im Westen der Stadt: ach, mit Senglein, der Jazzliebhaber mit dem zufriedenen Babygesicht, der im Großraum tüchtig ausrasten konnte, plötzlich schrie er wie ein Berserker, alle waren alarmiert. Doch der Jazz machte ihn mild. Wir standen oben auf der Galerie, nebeneinander, und sahen hinunter auf die Bühne. Chet Baker blies in seine Trompete und verbreitete unendliche Melancholie, wir sanken zusammen, oben mit den Armen auf die Umzäunung gestützt, sahen uns hilflos an, und in dieser Sekunde waren wir plötzlich in tiefem Mitleiden und im innigen Gefühl vereint; wir hätten nichts zueinander sagen können und brauchten es auch nicht, wir waren gefangen und besiegt, zwei leidende Menschlein, vereint in Trauer und einem Gefühl der Ausweglosigkeit. Senglein sehe ich selten, er arbeitet nicht mehr viel, und Chet Baker ist zu Tode gekommen in Amsterdam, aus einem Fenster gestürzt im Drogenrausch, übrigens ein Tod, der ihm längst schon zugedacht war; man war ohnehin wie überrascht, daß er immer noch spielte.

Die Anden, die wirklich ungeheuer oben sind, haben sich versteckt in der Schwärze der Nacht. Andrade ist tot wie Chet Baker, da sind sie alle wieder gleich, was immer sie getan haben. Ich schüttle mich und zahle die lächerlich niedrige Zeche. Die Zeche des Abends davor, die wird teurer. Alles ist wieder da. Ich glaube, ich habe eine schauerliche Nacht vor mir. Ich schreibe alles auf bis hierher. So weit bin ich also gekommen.«

Diesen Dienst mit Dieter Basil habe ich nie vergessen. Das erwähnte Brecht-Gedicht liebte auch meine Mutter; wenn ich es zitierte, wurde sie immer ganz aufmerksam. In Hamburg habe ich nicht nur Chet Baker (1929-1988) live gesehen, sondern auch zwei Mal den ebenso unvergessenen Miles Davis. Das bleibt.

Das Gedicht zur Gänze:

Erinnerung an die Marie A.

 

Hier ein Konzert von Baker, als er schon durch Drogen ziemlich strapaziert aussah. 

 

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