Rückkehr ins Leben (15): Von unter den Toten

Der Roman von Boileua/Narcejac, der uns heute interessiert, wurde 1954 geschrieben und heißt D’entre les morts. Das kann man nicht richtig übersetzen; im Deutschen hieß das Buch Von den Toten auferstanden. Ein wenig oberflächlich. Alfred Hitchcock hat nach diesem Buch den Film Vertigo — aus dem Reich der Toten gedreht, der nach Meinung von Kritikern zu den besten Filmen des 20. Jahrhunderts zählt.   

thkimKim Novak (links) verkörpert in dem Film von 1958 die Frau, James Stewart den Mann. Es ist eigentlich ein Zwei-Personen-Stück und könnte auch auf der Bühne angesiedelt sein. Vertigo heißt Höhenangst. Hitchcock hat die Vorlage natürlich zugespitzt, so machen die Filmleute das (der Trailer hier), doch wir schauen uns D’entre les morts näher an. Je mehr man sich mit Büchern beschäftigt, desto stärker spürt man, wie schwer es ist, einen guten Roman zu analysieren. Da gibt es so viele Hinweise, die man erspüren und herausholen muss, und es gibt vielerlei unterschiedliche Lesarten.

Pierre Boileau (1906-1989) und Thomas Narcejac (1908-1998) haben von 1952 bis 1991, also in 40 Jahren, 43 Kriminalromane geschrieben. Georges Simenon (1903-1989), der Schöpfer von Kommissar Maigret, schrieb über diesen 75 Romane und zudem 118 Non-Maigret-Romane; seine Produktivität ist unerreicht. Doch er begann bereits 1931 mit seiner publizistischen Tätigkeit. Boileau und Narcejac waren auch sehr erfolgreich und schufen typisch französische, psychologisch ausgefeilte Kriminalromane. Boileau kam in Paris zur Welt, Narcejac in Rochefort-sur-Mer, während Simenon, vergessen wir das nicht, Belgier war, in Lüttich (Liège) geboren.

D’entre les morts. Das Buch spielt 1940, die Deutschen sind im Anmarsch auf Paris. Der Geschäftsmann Gévigne beauftragt einen Freund, Roger Favières, seine Frau Madeleine zu beschatten, die sich seit einiger Zeit seltsam benimmt. Favières war Polizist. Er leidet unter Höhenangst, und als er einen Mann verfolgen sollte, schaffte er es nicht; ein Kollege ging hoch und stürzte ab. Bald danach quittierte Favières den Polizeidienst. Er lebt allein und ist unglücklich. Ein Satz sagt alles über ihn (und die Zeit damals, 1954, als der Existenzialismus mit Camus und Sartre regierte):

Die Wahrheit war, dass alle wie er, Flavières, waren — Menschen, die einen Abhang hinabstolperten, an dessen Ende das Nichts klaffte. Sie lachten, liebten, aber sie hatten Angst.

dvd-gluck-bausch - pjv copiaEr folgt also Madeleine, die durch Paris wandert. Es gibt eine Urgroßmutter, Pauline Lagerlac, die sich mit 25 Jahren das Leben nahm. Ist sie in Madeleine wiedergeboren worden? Die junge Frau geht ins Wasser, er rettet sie. Scheibt ihr eine Notiz: Der auferstandenen Eurydike! Das ist vielsagend: Die Nymphe Eurydike heiratete den Sänger Orpheus, wurde aber von einer Schlange gebissen und starb. Orpheus folgte ihr ins Totenreich und hätte sie beinahe gerettet — da dreht er sich um, was verboten war, und verliert Eurydike wieder. Das wird auch das Schicksal Madeleines sein, in dem Namen Eurydike steckt die ganze Geschichte von D’entre les morts. — Flavières jedenfalls hat sich in Madeleine verliebt.

Sie hatten schon einmal einen alten Glockenturm aufgesucht. Wieder gehen sie dorthin. Madeleine eilt hinauf, Flavières folgt, kann aber nicht weiter, und dann fällt ein Körper hinab und bleibt zerschmettert liegen. Madeleine ist offenbar tot. Flavières ist wie vernichtet und denkt wie Orpheus:

DSC00325Kleine Eurydike! — Die Tränen stiegen in ihm auf. Er hätte sich gern das Nichts vorgestellt, um den Versuch zu machen, ihr wenigstens in dieser Nacht dorthin in Gedanken zu folgen. Aber es gelang ihm nur, sich eine Totenstadt vorzustellen, die dieser des Lichts beraubten Stadt hier ähnlich war. Schatten glitten vor ihm her und verloren sich im Gewirr der Straßen; und der Fluss, der seine schwarzen Wasser die Ufer entlangtrieb, hatte keinen Namen mehr. Es tat wohl, in dieser Dunkelheit umherzuirren. Die Welt der Lebenden war fern. Hier gab es nur Tote — einsame, von der Erinnerung an die vergangenen Tage gehetzte Wesen. Sie kamen und gingen, und jeder dachte an irgendein vergangenes Glück. 

Dann rollen die Deutschen an, und Flavières flieht nach Toulouse, wo er die nächsten fünf Jahre verbringen wird. Als er zurückkehrt, erfährt er, dass Gévigne tot ist, gestorben in einem Auto, das von MG-Salven durchsiebt wurde. In einem Film sieht er eine Frau, die Madeleine sein könnte; und später trifft er sie an der Seite eines reichen Mannes. Sie muss es sein! Sie ist also wieder auferstanden! Niemand begreift es.

Ψ Ω Ψ

Wir kommen zum Finale, das man ungern verrät. Die junge Frau sagt, sie heiße Renée Sourange. Sie gehen zusammen aus. Flavières versucht, sie Madeleine anzunähern, lässt sie ihr Haar anders legen, kauft ihr neue Kleider und Schuhe. Die Frau bleibt distanziert, doch irgendwann bricht sie zusammen und gesteht: »Ja, ich bin Madeleine.«

Nun erfahren wir den Hintergrund. Es ist eine teuflische Geschichte. Gévigne wollte sich seiner Frau entledigen, lockte sie auf den Glockenturm, und dann kam die fingierte Madeleine hoch, und Gévigne warf seine Frau hinunter, die danach nicht mehr zu erkennen war. Flavières diente als Zeuge. Der Geschäftsmann wollte natürlich Renée heiraten, doch dann verlor er sein Leben. Während Flavières sich beschenkt fühlte. Der Ex-Polizist legt irgendwie schizophrene Züge an den Tag. Mal hält er sich für Gévigne, dann wieder meint er, Renée und er seien sozusagen eins, ein Körper.

Die beiden leben zusammen, aber Flavières begreift es nicht. Er schafft es nicht, sich von Madeleine zu trennen.

»Madeleine!« rief er.
Sie trocknete die Augen und schob die Haare zur Seite.
»Ich bin nicht Madeleine«, sagte sie. 
Da legte er mit zusammengebissenen Zähnen beide Hände um ihren Hals, warf sie auf den Rücken und hielt sie unbeweglich fest.
»Du lügst«, stöhnte er, »du hast nie aufgehört zu lügen! — Siehst du nicht, dass ich dich liebe — dich liebe! Von allem Anfang an!«

Aber wen liebt er? Eine Tote. Seine Erinnerung liebt er, ein Phantomwesen, ein Trugbild; die, die bei ihm ist, ist ihm nicht die Richtige, sie muss man zurückschicken ins Totenreich.

 

 

 

 

 

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