Lust am Text

Das Thema kam schon einmal vor bei manipogo, am 13. Mai 2013, eine Neuauflage schadet nicht. Roland Barthes, der französische Gelehrte (1915-1980), hat sich übers Schreiben und übers Lesen Gedanken gemacht, die mir gefielen.

paracelsBarthes appelliert an die Autoren in seinem Buch Die Lust am Text (Le plaisir du texte, 1973):

Der Text, den ihr schreibt, muss mir beweisen, dass er mich begehrt. Dieser Beweis existiert: es ist das Schreiben. Das Schreiben ist dies: die Wissenschaft von der Wollust der Sprache, ihr Kamasutra (für diese Wissenschaft gibt es nur ein Lehrbuch: das Schreiben selbst).

Und genial ist seine Einordnung des Schriftstellers:

004Der Schriftsteller befindet sich immer auf dem blinden Fleck der Systeme, er treibt dahin; er ist der Joker, ein Mana, ein Nullpunkt, der Strohmann des Bridge; notwendig für den Sinn (den Kampf), aber selbst bar jeden Sinnes; sein Platz, sein (Tausch-)Wert variiert je nach den Bewegungen der Geschichte, den taktischen Schlägen des Kampfes: man verlangt von ihm alles und/oder nichts.

Er/sie gehört dazu und irgendwie doch nicht; ohne die Distanz zum Geschehen und zum Publikum ist er kein rechter Schriftsteller, ein gewisses Fremdheitsgefühl gehört zu ihm. Er ist der »innocent bystander«, der gutmütige Onkel, der lächelnde Engel … aber da stoppe ich mich.

Klingt alles ganz gut, stimmt jedoch vermutlich nicht mehr. Barthes schrieb das Obige vor 50 Jahren. Ich glaube, heute bedeutet der Schriftsteller oder die Autorin gar nichts mehr. Ich verfolge ja keine Diskussionen im Fernsehen, doch wir haben mitgekriegt, dass letzlich die Massengesellschaft dem Buch seinen Nimbus geraubt hat und somit auch die Produzenten nicht mehr viel gelten.

Barthes hatte damals schön gesehen:

Keine Signifikanz (keine Wollust) kann, davon bin ich überzeugt, in einer Massenkultur entstehen (…), denn das Modell dieser Kultur ist kleinbürgerlich.

OIP.SidiGiASHfNVw1-fXInlwgHaJDAls das Verlagswesen in die Hände von Konzernen geriet, war das Buch erledigt. Geschrieben wird für die Massen, die großen Helden der Literatur sind tot, man kann sie wunderbar loben, und echte Literatur ist eine Sache für Minderheiten. Da dürfen wir uns nichts vormachen. Der (echte) Schriftsteller lebt heute im Untergrund und fühlt sich als subversive Gestalt. Das ist aber eine Rolle, die ihm (oder ihr) liegt. Die anderen Autorinnen und Autoren schreiben für die Massen, verfertigen Unterhaltung.

Barthes hatte aber schon 1967 einen Essay veröffentlicht mit dem Titel Der Tod des Autors. Ihn paraphrasiert schön Wikipedia:

Der Ort der Literatur ist nicht mehr ihre Quelle (ihr Autor), sondern das Lesen selbst. Der Text besteht aus multiplem Schreiben, zusammengesetzt aus verschiedenen Kulturen, die in einen Dialog treten. Das multiple Schreiben muss entwirrt, aber nicht dechiffriert werden. Die Einheit des Textes entsteht nicht durch die Figur des Autors, sondern erst im Leser. Barthes’ Schlussforderung lautet dementsprechend: „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“

Und Jorge Luis Borges behauptete, wie schon mehrmals bei manipogo wiederholt, alle Bücher seien eigentlich von einem Autor geschrieben, die Literatur sei ein Menschheitswerk, man müsse nicht einzelne Urheber hervorheben. Er hat auch beklagt, es gebe zuwenig richtig gute Leser; selber hat er sich mehr als Leser gesehen denn als Autor (das stimmt in meinem Fall auch).

Diese Konsumgesellschaft brauchte indessen ihren Geniekult; sie lebt von Promis. Nur sind das nicht mehr Schriftsteller, sondern Sportler, Schauspieler, Starköche und Influencer sowie ihre weiblichen Vertreter.

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