Rückkehr ins Leben (20): Wiederauferstehung
Die Reise ins Jenseits kann man auch im übertragenen Sinn meinen. Schon in diesem Leben gehen wir manchmal durch eine subjektive Hölle und erleben eine Wiederauferstehung; oder wir sehen scheinbar das Paradies, halten uns in ihm auf und werden wieder daraus vertrieben; alles ganz normal.
Es gab immer Gelehrte am Rand des Mainstream, und deren Aussagen sind natürlich interessanter als alles, was einem bekannt ist und eingängig vorkommt. Ich habe immer gern die Werke des italienischen Anthropologen Carlo Ginzburg (geboren 1939) gelesen. Er schrieb einmal, die Jäger der Frühzeit hätten die Knochen der von ihnen getöteten Tiere gesammelt, weil sie glaubten, dass es ein Fortleben gebe.
Jedes Tier, das am Horizont auftauchte, war ein auferstandenes Tier. Von daher die tiefe Identität zwischen Tieren und Toten: es handelte sich um zwei Ausdrücke des Andersseins. Das Jenseits war vor allem anderen, wörtlich, der andere Ort. Der Tod kann als ein Sonderfall der Abwesenheit angesehen werden.
Ginzburg erkannte, dass die Mythen miteinander verwandt sind.
Alle verarbeiten ein gemeinsames Thema: die Reise ins Jenseits, die Rückkehr aus dem Jenseits. Dieser elementare Erzählkern hat die Menschheit Jahrtausende hindurch begleitet. Erzählen bedeutet, hier und jetzt mit einer Autorität zu sprechen, die sich daraus ableitet — buchstäblich oder metaphorisch —, dort und damals gewesen zu sein … die Matrix aller möglichen Erzählungen.
Bei Joseph Brodsky, dem russischen Literatur-Nebelpreisträger (1940-1996) findet sich eine ähnliche Aussage:
Mit anderen Worten, die Kunst ahmt eher den Tod als das Leben nach: die Sphäre, von der das Leben nicht zu berichten hat. Im Bewusstsein der eigenen Kürze versucht die Kunst, die längste mögliche Lesart der Zeit einzuholen. Was letztlich die Kunst vom Leben unterscheidet, ist ihre Fähigkeit, einen höheren Grad der lyrischen Diktion zu erzeugen als sonst eine menschliche Umgangsform. Darum ist die Dichtung die Nachbarin — wenn nicht sogar die Erfinderin — des Lebens nach dem Tod.
Eine kühne Aussage! Dennoch geht es um das Leben, in dem wir stehen. Um Neuanfänge und die Auferstehung. Kürzlich las ich Reise ins Dunkel von Jean Rhys (1890-1979), die eigene Erlebnisse verarbeitete. Die Protagonistin des Romans erlebt schlimme Dinge, wird immer wieder von Männern hintergangen und verraten. Sie erkrankt, werde aber wieder gesund werden, meint der Arzt. Der Roman endet so (wie ein Roman enden sollte):
Als sich ihre Stimmen entfernten, erschien wieder der Lichtstrahl unter der Eingangstür wie eine letzte Erinnerung vor dem völligen Auslöschen des Vergessenen. Von meinem Bett aus betrachtete ich ihn und dachte an eine neue Abreise. An eine neue Frische. Und an Morgende, an Tage mit Nebel, an denen sich alles ereignen könnte. Und an eine neue Abreise, eine neue Abreise …