Camus und die Keuschheit
In einem unverdächtigen Regal unterhalb des Heitersheimer Friedhofs standen drei schöne Gallimard-Ausgaben, und ich nahm die Carnets von Albert Camus mit und ein dickes Buch von Simone de Beauvoir über das Alter. Ganz schlichte Bücher sind das, Klassiker. Camus hatte von 1945 bis 1951 Notizbücher gefüllt, da war er Anfang dreißig, und was er über die Sexualität schrieb, fand ich interessant.
Albert Camus (1903-1960), der Algerier, bekam ja in meinem Geburtsjahr 1957 den Literatur-Nobelpreis. Er hat Der Fremde geschrieben und Die Pest, wurde bekannt durch das Absurde und den Existenzialismus, aber mit Sexualität hatte ich ihn nie in Verbindung gebracht. (Er lebte jedoch in Frankreich, da spricht man gern über l’amour.) Es geht ja auch mehr um ihr Gegenteil: die Enthaltsamkeit, die Keuschheit. Auch Franz Kafka, der einige Liebschaften hatte, lobte in seinen Briefen die Keuschheit, die Askese.
Vielleicht war Camus ein stiller Mystiker. Sicher hielt er sich gern abseits. In den Notizbüchern (Carnets) hat er viele Zitate gebracht und Aphorismen verfertigt, aber wir bleiben mal am Thema. Manches ist diskutierbar, doch so ist das mit den rasch hingeworfenen Gedanken in Notizbüchern.
Das Sexualleben ist dem Menschen gegeben worden, um ihn vielleicht von seinem wahren Weg abzulenken. Es ist sein Opium. In ihm schläft alles ein. Außerhalb von ihm gehen die Dinge wie gewohnt ihren Gang. Gleichzeitig löscht die Keuschheit die Spezies aus, was der Wahrheit entsprechen könnte.
Die Sexualität führt zu nichts. Sie ist nicht unmoralisch, aber unproduktiv. Aber allein die Keuschheit ist an einen persönlichen Fortschritt geknüpft. Es gibt eine Zeit, in der die Sexualität einen Sieg darstellt — wenn man sie von moralischen Imperativen loslöst. Aber danach wird sie schnell eine Niederlage — und der einzige Sieg, der über sie errungen wird, ist eben: die Keuschheit.
Die ungezügelte Sexualität führt zu einer Philosophie des Nicht-Signifikativen (Bedeutungslosigkeit) der Welt. Die Keuschheit gibt ihr im Gegenteil einen Sinn (der Welt).
Das brutale physische Verlangen ist etwas Einfaches. Aber das Begehren wie auch die Zärtlichkeit verlangen Zeit. Man muss das ganze Land der Liebe durchqueren, bis man die Flamme des Begehrens entdeckt. Ist es darum am Anfang so schwierig, das zu begehren, was man liebt?
Keine sexuelle Depression ohne Keuschheit, etc.
Mit Sade wird die systematische Erotik eine der Richtungen des absurden Gedankens.
Sade: »Man erklärt sich gegen die Leidenschaften, ohne zu bedenken, dass die Philosophie an deren Flamme die seine entzündet.«
Ω Ψ Ω
Wir bereits angedeutet in Die Lust am Text, lebt ein gewisser Spannungszustand immer in uns. Er trägt uns. Das Gegenteil wäre die postkoitale Entleertheit und Enttäuschung, weshalb etwa die gnostischen Kabbalisten (bei glorian.org) jegliche Ejakulation vermeiden wollen. Im Tantra geht es auch darum, die Erregung umzuleiten und für den spireituellen Fortschritt zu nutzen (wie das geht, ist eine andere Frage).
Die Kreativität speist sich vielleicht aus einer erotischen Grundspannung. Freud hat das erkannt und von Sublimierung gesprochen, aber das klingt etwas negativ, als sei da etwas auf ungute Weise umgelenkt worden. Keuschheit (chasteté bei Camus) hat natürlich auch einen merkwürdigen Beiklang, gefärbt vom Christentum. Leider ist alles, was mit Sexualität zu tun hat, derart aufgeladen, dass klares Nachdenken darüber schwer wird.