Neue Formen

1900_yalta-gorky_and_chekhovAus dem Schauspiel Die Möwe von Anton Tschechow sind mir einige Sprüche in Erinnerung, und einen tut der malancholische Dichter Trepljew: »Es braucht neue Formen; neue Formen braucht es, und wenn das nicht kommt, braucht es besser gar nichts.« Darum geht’s heute: um neue Formen. Um die Erneuerung, die Überraschung, das Erwachen. (Rechts Tschechow, neben ihm Gorki.)

Ich hätte vielleicht nicht mehr daran gedacht, wäre ich nicht auf ein Zitat von Federico García Lorca (1898-1936) gestoßen, der viel über duende schrieb, diesen schwer zu erklärenden kreativen und gefühlsmäßigen Ausbruch des Künstlers, zu beobachten im Flamenco:

Die Ankunft des »duende« bringt immer eine radikale Veränderung aller Formen mit sich, die sich auf die alten Muster legen, die Empfindung einer völlig unerhörten Frische, vergleichbar mit einer eben entsprossenen Rose, das Gefühl eines Wunders, das zu einer fast religiösen Begeisterung führt.

garcia_lorca_federicoGarcía Lorca, der das Leben der Gitanos gefeiert hat, den Flamenco, den Stierkampf und seine heimatliche Erde, Andalusien, war ein Linker. Am 18. Juli 1936 putschte General Francisco Franco und blieb bis zu seinem Tod am 20. November 1975 an der Macht. Bis zu jenem Jahr war der Tod des Dichters — er wurde am 16. August 1936 abgeholt und eingesperrt und zwei Tage später an einer Landstraße erschossen — ein Tabu: Man durfte nicht darüber sprechen. Gespenstisch.

40571407_7748f5c410Duende steigt »von den Fußsohlen« auf, durchströmt den Künstler und bringt ihn außer sich. Die Zuschauer spüren diese Trance und rufen »Olé!« oder »Allah!«. In abgeschwächter Form spürt das jeder Kreative. Da will sich etwas Bahn brechen, er spürt es, er wirft’s aufs Papier oder gestaltet etwas, und es ist ihm egal, wie es aussieht. Das ist neu, unerhört, doch es muss so sein. Auch Wissenschaftler werden manchmal von einem Gedanken beseelt und arbeiten ihn aus, obwohl sie ahnen, dass seine Kollegen sein Konzept nicht schätzen werden. Es muss sein!

Demokrit von Abdera (460-370 v. Chr.) behauptete schon, dass große Dichtung auf göttlicher Inspiration beruhe: »Alles, was ein Dichter aus Gotteserfülltheit und heiligem Anhauch schreibt, ist sicherlich schön.« Aber schön genügt nicht.

Ohne Erneuerung erstarrt alles. In einer Gesellschaft wie der unsrigen läuft alles wie geschmiert, und hakt etwas, baut man eine kleine Änderung ein, ein Reförmchen, und dann wird alles weitergehen. Man muss nicht viel drüber nachdenken, man tut, was man immer getan hat, und so spart man Energie. Neu sind allerhöchstens irgendwelche Produkte, die kein Mensch braucht. Die Überraschung ist ja für das Bewusstsein ein Jungbrunnen; es wird wieder wach, es orientiert sich neu, es hat etwas zu tun.

Es wird immer wieder etwas neu. Es ist in etwa wie bei wissenschaftlichen Revolutionen, wie uns Thomas S. Kuhn auseinandergesetzt hat. Sein Buch von 1962 war wegweisend. Kuhn schilderte, wie das Establishment an seinen alten Vorstellungen festhält und alles ablehnt, was diesen zuwiderläuft. Doch irgendwann wird der Druck zu stark, das Alte lässt sich nicht mehr halten, und ein Umsturz folgt: Ein neues Paradigma ersetzt das bislang bekannte.

003

In einer saturierten, behäbigen, wohlhabenden Gesellschaft will man nichts Neues. Jedoch bahnt sich immer etwas im Untergrund an. Junge, ungeduldige Menschen dringen ins Arbeitsleben ein und sind unzufrieden. Die ersten Reformversuche scheitern (die Pioniere zahlen immer teuer), doch irgendwann ändert sich etwas. Die neuen Formen, die Trepljew 1904 in Tschechows Theaterstück forderte, warten schon irgendwo. Es wird viel geredet, zuviel, doch irgendwann wird einmal gehandelt. Welche neuen Formen man will, darüber muss sich die Gesellschaft einigen.

Der große Bewusstseinssprung, auf den einige hoffen. liegt noch in weiter Ferne, darum wird man auf weltweiten Frieden, Abschaffung des Hungers und Selbstbestimmung aller Menschen in allen Ländern novch etwas warten müssen.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.