Scharfsinn und Tiefe
Es herrscht Einigkeit darüber, dass der Amerikaner Edgar Allan Poe (1840-1849) der Vater der Detektivgeschichte ist — und somit auch der Vater des Kriminalromans. Als erste Erzählung dieses Genres betrachtet man Die Morde in der Rue Morgue von 1841. Ein Erzähler lässt seinem Freund, C. Auguste Dupin, breiten Raum, seine Theorien auszuspinnen. In Dupin verbirgt sich schon Sherlock Holmes, der erst 1891 seine Karriere begann.
Dies illustriert schön die Idee des Historikers Harold Bloom, der einmal schrieb, in früheren Kunstwerken seien spätere Werke (oder Personen) bereits der Oberfläche »eingeschrieben«. Der Erzähler ist Stichwortgeber für den genialen C. Auguste Dupin, der so vor sich hin monologisiert; doch die beiden können auch stundenlang schweigen, meditativ Pfeife rauchend.
Sir Arthur Conan Doyle, der Dr. Watson als Erzähler und den genialen Sherlock Holmes schuf (oben rechts Benedict Cumberbatch und Martin Freeman in einer BBC-Serie), nahm in seinen Werken auf Dupin Bezug; er erkannte das große Vorbild an. Die beiden scharfen Denker — Edgar Allan Poe und Conan Doyle — hatten etwas fürs Okkulte übrig. Poe schrieb sehr klug über den Mesmerismus, und sein englischer Kollege widmete sich dem Spiritualismus, nahm an Sitzungen mit Medien teil und veröffentlichte das wichtige Buch Phineas Speaks. Natürlich erklärte man ihn für verrückt; aber Klugheit und das Jenseits schließen einander nicht aus.
Die Morde in der Rue Morgue werden erst nach einer fast vierseitigen theoretischen Einleitung geschildert; Edgar Allan Poe sah tief hinein in das Rätsel um Verbrechen, Motive und deren Aufklärung.
Edgar Allan Poe wurde nur 40 Jahre alt. Er war ungeheuer produktiv und polemisch, und kurz vor seiner zweiten Heirat, auf der Reise dorthin, verschwand er und wurde erst nach einer Woche aufgegriffen, todkrank. Er starb im Krankenhaus. Es konnte nie geklärt werden, was geschehen war.
Poe beginnt seinen Exkurs mit der Erklärung, die Aspekte des Analytischen seien ihrerseits kaum analysierbar. (Analyse ist die Untersuchung eines Falls mit Röntgenblick; Synthese ist das Gegenteil: das Zusammenbringen von Dingen.) Der Analytiker, der Rätsel liebe, lege die einzelnen Elemente eines Falls auseinander, zerlege sie, und das Ergebnis seines Scharfsinns lasse Inuition ahnen. Ein einfallsreicher Geist (ein Erfinder) besitze viel Fantasie, sei aber in den seltensten Fällen analytisch begabt; der Analytiker hingegen verfüge über viel Vorstellungskraft. Hier unterscheidet Poe Fantasie (fancy) und Vorstellungskraft (imagination).
Zu viel Scharfsinn sei auch schädlich, dann fehle es an Tiefe. Die vorher erwähnte Intuition gibt einen Hinweis. Sie ist Erfahrung plus Bauchgefühl; manche Dinge sind derart kompliziert, dass man sie nicht verstehen, geschweige denn entwirren kann. Es hilft nur das Durchhauen des gordischen Knotens, also ein frischer Zugriff aus einer Ahnung heraus. Oder man versucht eine Provokation, lässt einen Versuchsballon steigen.
Ein Kriminalfall ist insofern das Gegenteil einer Erfindung, als die Ermittler ihre Fantasie in die Vergangenheit hinein arbeiten lassen: Was mag geschehen sein, wie könnte es sich abgespielt haben? Hierbei muss man sich an die Fakten halten, sollte aber dennoch offen sein für alle möglichen Lösungen. Dupin stellt nicht die Frage »Was ist geschehen?«, sondern die Frage: »Was ist geschehen, das noch nie zuvor geschehen ist?«
In den Filmen geschieht die Klärung meist nicht durch pures Nachdenken, sondern indem der Kommissar (oder die Kommissarin) ein Detail sieht oder einen Satz hört, der ihm (ihr) ein Licht aufgehen lässt, das auch die Zuschauer erleuchten sollte. C. Auguste Dupin jedoch denkt andauernd nach, und in Das Geheimnis der Marie Rogêt interpretiert und analysiert er lange Zeitungsartikel, die die Details des Falls liefern, und nähert sich so lagsam der Lösung.
Der Analytiker, fährt Poe fort (in einer anderen Geschichte, Der entwendete Brief), stürze sich auf den Geist seines Gegners und identifiziere sich mit ihm. Die Pariser Polizei finde den Brief nicht, weil sie zu dieser Identifikation nicht fähig sei, weil sie sich sich von ihrer eigenen Vorstellung leiten lasse; die Beamten überlegten, wie sie den Brief versteckt hätten, richten sich also nach der Masse und scheitern, wenn es um ein besonderes Individuum geht. — Erst in jüngerer Zeit wurde in Kriminalfilmen der Profiler oder die Profilerin eingeführt, die versuchen, sich in die Haut des mutmaßlichen Verbrechers zu versetzen. Edgar Allan Poe wusste das schon 150 Jahre vorher. (Man sollte alle seine Erzählungen lesen. Und alle von Borges.)
In der Geschichte um den entwendeten Brief (The Purloined Letter) ist das Geheimnis so offenkundig, dass die Beamten es übersehen. Sie haben, wie Dupin es sagt, »zu nah hingeschaut«. Es hilft immer, aus der Distanz etwas zu betrachten; dann aber hilft es auch immer, einen Lokaltermin zu veranstalten, die Urquellen zu lesen … Es gibt kein festes Rezept, das macht die Sache aber so spannend.