Die Unterwelt und unsere Angst

Alle, die mal auf Mallorca waren, kennen die Drach-Höhlen. Ich war schon lange in keiner Höhle mehr gewesen, und es ist, als steige man in sich selbst hinein. Diese untere Welt gleicht keiner, die wir kennen, und dort treffen wir den Fährmann Charon, der die toten Seelen über den Styx rudert.

In den Höhlen werden als Schlussakkord Touristen in Booten zum Ausgang gerudert, und dann steigen sie aus wie die Toten in der griechischen Antike, denen vorher ein »Obulos« in den Mund gelegt wurde als Fahrgeld. Ob sie dann im Hades landeten oder im Elysium, war nicht ganz klar, das hat die alten Griechen auch nicht sonderlich interessiert. Ob der Fluss der Styx war oder der Acheron, weiß man auch nicht, doch ist dieser Mythos schön schauerlich.

Auch diese Welt unter der Erde verändert sich stetig und lebt. Sie ist von einer eigenen Schönheit.

Mir fielen dabei nur die Geschichten aus der Literatur ein, die unter der Erde spielen. Max Frisch ließ Stiller in seinem gleichnamigen Roman von 1954 eine Episode in einer Höhle berichten; Albin Zollinger erzählte von zwei Jünglingen, die sich unrettbar in einer Höhle bei Rom verirren; und Günter Eich schrieb einmal ein Hörspiel um eine Schulklasse, die es nicht mehr schafft, aus einer Höhle herauszukommen. Immer geht es um die Angst, drunten bleiben zu müssen, weil wir das Licht brauchen und die Dunkelheit uns dem Tod ähnelt.

Interessant, was man so denkt. Man hat sich in den Jahren verändert, und plötzlich taucht jäh ein neuer Gedanke auf. In den Cuevas de Drach war es bei mir folgender: Wozu brauche ich eigene Erinnerungen? Mein Leben war nicht bedeutend, die schönsten Szenen stammen eigentlich aus Büchern und Filmen. Ist das nicht das Gedächtnis der Menschheit? Ich bin der, der ich im Augenblick bin; was ich war, ist nicht von Belang. Die Kunstwerke der Welt gehören allen und sind mein Reservoir der Erinnerung.

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