Adorno über die Freizeit
Früher habe Freizeit Muße geheißen, verrät uns Theodor W. Adorno; seit der Mensch ins Arbeitsleben eingespannt ist, heiße Freizeit: keine Arbeit. In den 1960-er Jahren fragte sich der Philosoph, der von 1903 bis 1969 lebte, unter dem Stichwort Kritische Modelle, was Freizeit auszeichnet. Gelten seine Ausssagen heute noch?
Doch, ja, die Grundstruktur ist geblieben. Die Menschen arbeiten, oft unter Druck, und zum Ausgleich haben sie Urlaub. Die Großfirmen von einst sind Apparate geworden, die Arbeitnehmer haben Rechte, aber ist ihnen ihre »Fremdbestimmtheit« ins Bewusstsein gedrungen? Niemand spricht davon, es ist akzeptiert, das Leben ist halt so. Es gibt die Freizeit, und erst seit neuerem spricht man von »Work-Life-Balance«. Die Jüngeren leben nicht mehr nur für eine Karriere, sie wollen sich ausleben. Lehrer dürfen auch ein Sabbatjahr einlegen, und es herrscht ja Personalnot, man kann mal kündigen und irgendwann was Neues anfangen. Doch 95 Prozent der Menschen arbeiten brav, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Ich war mit Fahrrad und Zelt unterwegs. Das Draußen-Nächtigen sei früher Signal dafür gewesen, der Familie entronnen zu sein. Dann kam die Campingindustrie, und Adorno bemerkt:
Deshalb gelingt die Integration der Freizeit so reibungslos; die Menschen merken nicht, wie sehr sie dort, wo sie am freiesten sich fühlen, Unfreie sind, weil die Regel solcher Unfreiheit von ihnen abstrahiert ward.
Marx ist ja weit weg, doch das mit dem Fetischcharakter der Ware stimmt noch. Adorno konnte sich nicht ausmalen, dass 60 Jahre nach seinen Erörterungen ein wohlhabendes Volk sich für Wohnmobile begeistern würde, von denen eins gewiss den Lohn eines ganzen Jahres auffrisst. Heute gibt es im Land eine Million Wohnmobile, die die Campingplätzen vollstellen, und Zeltbesitzer sind die arme Minderheit. Auf den Straßen 100.000 Automobile und 100 Räder, das Dicke, Teure hat sich multipliziert und verdrängt das Kleine, ganz gegen die Natur, wo Kleingetier häufiger ist als Großwild. Das ist Dinosaurier-Mentalität; doch die Dinosaurier starben damals aus.
Sie stellen ihren Wagen ab, ein Zelt daneben, und dann setzen sie sich auf Campingstühle und lesen. Sie sehen vielleicht einen Zaun und eine Hecke. Vielleicht bewegen sie noch die beiden Räder, die sie mitgebracht haben. Sie tun halt, was sie zuhause auch immer tun. Um den Wohnwagen bauen sie einen kleinen Zaun: Das ist meins!
Adorno:
Unter den herrschenden Bedingungen wäre es abwegig und töricht, von den Menschen zu erwarten oder zu verlangen, dass sie in ihrer Freizeit etwas Produktives vollbrächten; denn eben Produktivität, die Fähigkeit zum nicht schon Dagewesenen, wird ihnen ausgetrieben. … Wer sich anpassen will, muss in steigendem Maße auf Phantasie verzichten.
Und er erkennt:
In einem System, wo Vollbeschäftigung an sich zum Ideal geworden ist, setzt Freizeit die Arbeit unmittelbar schattenhaft fort. Noch fehlt es an einer eindringenden Soziologie des Sports, zumal der Sportzuschauer.
Ja, die Zuschauer! So eine Fußball-Europameisterschaft gehört ja auch zur Freizeit. Die Stadien waren voll, dicht an dicht Tausende in Rot-Blau oder Orange Gekleidete, die vor und nach dem Spiel die Straßen füllten, Ekstase und Verzweiflung angesichts eines eigentlich überflüssigen Wettbewerbs, der Kampf und harte Arbeit war, demonstriert von den überbezahlten Gladiatoren dieser Gesellschaft, die noch mehr Geld in die Kassen scheffelten. War die Begeisterung und das Mitfiebern der Fans ein neu erwachter Nationalismus … oder nicht eher ein Ventil für überschüssige, aufgespeicherte Energie? 30.000 Franzosen hätten in einer Halle die Marseillaise gesungen, berichtete ein Freund. Wieviel Energie in dieser Gesellschaft des Spektakels (Begriff von Guy Debord)! Marx würde heute sagen: Sport-Events sind Rauschgift für das Volk. Denn Opium beruhigt ja (Religion ist Opium für das Volk, hatte er ursprünglich verkündet), aber da geht was ab!
Dazu:
Spektakelwut — Die Gesellschaft des Spektakels.
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