Musterknaben
Bei der Europameisterschaften im Fußball hat man sie mal wieder gesehen: unsere Nationalfarben und jubelnde Deutsche. Bei den Olympischen Spielen auch. Hat mich nur am Rande interessiert, aber dann … interessiert’s mich doch, wenn jemand über den deutschen Nationalcharakter schreibt wie Andrzej Szczypiorski (1928-2000).
Der Roman Die schöne Frau Seidenman spielt, wie gestern geschildert, in der damaligen Kriegszeit in Warschau, das die Deutschen beherrschen und in dem sie das Ghetto für die Juden einrichten. Johann Müller ist Deutscher, gehört zur Partei und besitzt auch eine Fabrik, und in Warschau nennen sie ihn Jasio, weil er sich auch den Polen zugehörig fühlt. Filipek dringt in Jasio, er solle Frau Seidenman aus dem Gefängnis und den Händen der Deutschen befreien, er könne das. Johann Müller geht also hin und schafft es tatsächlich. Gefängnischef Stuckler, sein Parteigenosse, glaubt ihm: Ein Irrtum sei geschehen. Die schöne Frau Seidenman kommt frei. Das hatten wir ja schon gestern.
Dann denkt Johann Müller alias Jasio über sein Deutschtum nach.
Etwas Wahres wird an dem sein, was er denkt (was ihn Szczypiorski denken lässt):
Uns fehlt die Prise Wahnwitz, dachte er, wir sind zu nüchtern. Vielleicht bin ich deshalb fortgegangen, hierher, unter die Polen, weil in mir immer diese Prise Wahnwitz war, ein Galopp der Phantasie, der keinem echten Deutschen widerfährt. Vom Wahnwitz berührt, hört er auf, Deutscher zu sein, sagt er sich los von seinem Blut und seinem Boden. Besser sein auf jedem Gebiet, unerreichbar sein, das ist deutscher Ehrgeiz. Am schönsten komponieren, am produktivsten arbeiten, am klügsten philosophieren, am meisten besitzen, am effektivsten totschlagen!
Nun ja, dachte er voller Bitterkeit und Schmerz, aber gerade das ist der echte Wahnwitz. Kein Wahnwitz ist die Mutwilligkeit der Gedanken und Taten, das Leben als Tanz oder als Lied. Im nüchternen Ehrgeiz, im unermüdlichen Streben nach der Erstrangigkeit, in allem steckt der deutsche Wahn. … Wenn die Geschichte einst die Pflicht zur Verstellung auferlegt, werden sie die vollkommensten Scheinheiligen unter der Sonne sein.
Müller beschließt im Roman sein Leben in Bayern. Er unternahm Spaziergänge, trank vorzügliches Bier, aß gut, tat, was er wollte und keiner redete ihm drein,
… denn in Deutschland war eine so anständige, vielfältige, redliche Demokratie entstanden, wie sie nur in Deutschland möglich war. So ließ auch die deutsche Demokratie Müller keine Ruhe, denn wiederum fand er in ihr die Tyrannei der Perfektion, ohne welche die Deutschen nicht leben können. … Er fühlte sich wieder unwohl, ihm fehlte das Unvollendete, Unklare, Ungewisse der Dinge und Gedanken, durch die die Schwäche der menschlichen Natur hindurchscheint, ihr ewiges Suchen nach dem Unbenennbaren und Unaussprechbaren.
Aus: Die schöne Frau Seidenman, Diogenes Zürich, 1991, S. 149-154