Die schöne Frau Seidenman

Ich las schnell und gierig Die schöne Frau Seidenman von Andrzej Szczypiorski (1928-2000), was für ein tolles Buch, und die letzten Sätze waren wie eine Antwort auf Inshallah a boy! Es war unglaublich. Miriam, in Israel lebend, ist tatsächlich schwanger, hat Angst vor der Geburt, bekommt ein Kind: ein Mädchen. Sie ist erleichtert. Es ist nicht der allerletzte Satz; der kommt gleich …

Der allerletzte Satz lautet:

Vielleicht jedoch hätte sie dieselbe Erleichterung empfunden, wenn sie einen Sohn zur Welt gebracht hätte.

Vielleicht. Vielleicht hätte sie ausgerufen: Inshallah a boy! Warum wollte sie ein Mädchen? Das kann nur mit einer Szene zu tun haben, die sie miterlebte: Israelische Soldaten werfen eine Palästinenser-Familie auf die Straße, traktieren sie mit Fußtritten. Ihre Reaktion auf dieses Szenario, das heute noch aktuell ist (heute traktiert man sie von oben mit Bomben und beschneidet ihr ohnehin schon schmales Territorium immer mehr):

Sie vergab der Welt alles Böse, denn nun war der Ausgleich für alles Unrecht gekommen, und die Juden würden nicht mehr die Verachteten, Erniedrigten und Verfolgten sein. Doch ihre Begeisterung währte nicht lange. … Die israelischen Soldaten standen, wie Soldaten das tun, den Fedayin von Angesicht zu Angesicht gegenüber, aber die Fedayin waren gebückt, hielten die Arme im Genick verschränkt, ihre Frauen kreischten, obwohl sich niemand für sie interessierte, die Soldaten dagegen standen auf gespreizten Beinen, mit steinernen Gesichtern, deren Ausdruck ziemlich dumm und angeberisch wirkte, und hatten die Finger am Abzug ihrer Pistolen.

So einen Mann, der später ein dummer Soldat sein würde, so einen wollte Miriam vielleicht nicht gebären. Rechts oben: Soldatenmonument in Missouri, fotografiert von Carol M. Highsmith.

Das Buch erschien schon 1988 und behandelt die Zeit in Warschau von 1940 bis 1944, als SS, Gestapo und andere Polen terrorisierten und ein Ghetto einrichteten.

Man kann nicht genug loben, was Szczypiorski mit diesem (erfolgreichen) Buch geschafft hat. Er erzählt Geschichten um ein Dutzend Personen damals in Warschau, die sich alle begegnen und miteinander zusammenhängen, ihren Alltag und ihre Gedanken, die düster sind angesichts der täglichen Bedrohung, ins Gefängnis abtransportiert zu werden oder ins Lager. Und dann blickt der Erzähler kurz nach vorn und teilt uns mit, wie jeder von ihnen dann starb. Das Ende gehört zum Leben, irgendwie vollzieht es sich und schließt eine Geschichte ab: vollendet sie, um es pathetisch zu sagen. So leben wir in diesem Buch in der Gegenwart, in die die Schatten der Zukunft hereinreichen. Grausam ist das, aber zugleich realistisch. (Links oben: das Warschauer Ghetto.)

Die Einzige, deren Ende uns vorbehalten bleibt, ist die Titelfigur, die schöne Frau Seidenman, Witwe eines Industriellen. Bronek Blutman hat sie verraten, sie kommt ins Gefängnis, aber Johannes Müller, ein Parteimitglied mit Sympathien für die Polen, holt sie raus, überredet Stuckler, den Gefängnisboss, es sei ein Irrtum passiert. (Wir erleben Stuckler auf einer Fahrt übers Land und erleben seinen Monolog mit, und hat je jemand so klar und eindringlich wie der Autor geschildert, wie ein Nationalsozialist denkt, wie er seine Taten rechtfertigte, was in ihm vorging?) Frau Seidenman kommt frei, wird 1968 dann jedoch entlassen, weil sie Jüdin ist, und verbringt ihren Lebensabend in Paris. (Rechts oben: Eine Terroraktion der Deutschen in Warschau.)

Blutman sitzt zu Hause, seine lüsterne Frau will Sex mit ihm, er lässt sich überreden.

Blutman schnaufte wie der grippekranke Rikschafahrer. Später schlief er ein. Ihm träumte, er sei alt. Irrtum. Ein Jahr später wurde er in den Ghettoruinen erschossen. Er hatte sich nicht geirrt, als er gedacht hatte, er werde sowieso getötet.

Das ist Szczypiorskis Stil. Und ich dachte mir: Vielleicht kann man nur so, mit abgrundtiefem Sarkasmus, über jene Zeit schreiben, in der »die Welt log«, in der nichts mehr galt und ein Menschenleben gleich gar nichts. Wer diese Zeit erlebt hat, wird immer außerhalb der Welt stehen und unverständlich deren Getriebe betrachten, geprägt von Furcht und Terror für immer.

Dazu:

Die Stadt Arras, um 1460

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