Sebald, die Toten & die Zeit
Im April schickte ich einen 12-seitigen Essay in den Allgäu, um am Literatur-Wettbewerb der Sebald-Gesellschaft teilzunehmen. 10.000 Euro sollte das Preisgeld sein, und die Vorgabe war »Erinnerung und Gedächtnis im Werk W. G. Sebalds«. Es gab 552 Einsendungen, und eine Autorin hat gewonnen, nicht ich. Weil mein Beitrag aber gut ist, setze ich ihn (in 5 Folgen) auf meine Seite manipogo, ha! Es hieß, die Siegerin habe sehr gut ein Thema des Alkoholismus behandelt. Alkoholismus? Bei Sebald kommt Alkohol in keiner Zeile vor, das hat ihn nicht interessiert. Hat die Jury ihre Vorgabe auch nicht interessiert? Denn es hieß, Motiv der Arbeit von 30.000 Zeichen solle sein »Erinnerung und Gedächtnis im Werk W. G. Sebalds«. Also schrieb ich eine literaturwissenschaftlich geprägte Arbeit, die ihr in 5 Folgen nachlesen könnt, und ich bin überzeugt, eine bessere haben sie nicht bekommen. Doch ausgezeichnet werden sollte ja Literatur, der man gemeinhin keine Vorgaben gibt und von der man auch nicht weiß, was sie ist. Das ist sehr subjektiv, und die Jury hatte eben eine besztimmte Vorstellung davon, wie Literatur aussehen soll und wollte über Sebald gar nichts erfahren.Alles krumm und schief.
Ich habe mich ans Thema gehalten, und jetzt fühle ich mich betrogen. (Übrigens: was ich schreiben wollte, verarscht, hat die BILD-Zeitung kürzlich in einer Überschrift auf der ersten Seite verwendet. So tief dürfen Journalisten nicht sinken, auch wenn sie für die BILD arbeiten.) Sie hatten jedenfalls (durch meinen Beitrag) die Chance, das Werk Sebalds besser kennenzulernen, und diese Chance haben sie nicht genutzt. Das ist ihre Sache. Hier also Teil 1 des Beitrags
Sebald, die Toten & die Zeit
Im Mai 2012 bin ich, um in Gent am Jahrestreffen des Internationalen Verbands für Veteranenräder teilzunehmen, mit dem Rad durch Lothringen hochgefahren nach Belgien. Ich besah mir in Mons die Soldatenfriedhöfe des Ersten Weltkriegs und erreichte das Meer. Die Küste lag im Nebel, und der Campingplatz war verlassen.
Nach dem mehrtägigen Treffen fuhr ich nach Antwerpen, weil W. G. Sebald in dieser Stadt und präziser in dessen Jugendstilbahnhof seinen Roman »Austerlitz« beginnen lässt. Den Bahnhof betrachtete ich und machte ein paar Fotos, ohne dass dies den Eindruck verändern konnte, den das Treffen des Erzählers mit der Titelfigur Austerlitz im gleichnamigen Roman geschaffen hatte.
Antwerpen mag auch die Stadt sein, in der Marlowe sein Schiff bekommt, um den Kongo hinunterzufahren, hinein ins »Herz der Finsternis«. In diesem Roman von Joseph Conrad trifft der Kapitän den sagenumwobenen, charismatischen Funktionär Kurtz, der als letzte Worte »the horror!« hervorstößt, und wir denken an Gwendolyns, Austerlitz‘ walisischer Pflegemutter letzte Worte »What was it that darkened so our lives?« Austerlitz begibt sich selbst bald auf die Suche nach seiner Vergangenheit, auch er unterwegs ins Herz der Finsternis.
Einige Jahre nach meiner Belgien-Reise begann ich, spät im Leben, eine Ausbildung als Animateur und arbeitete bald im Pflegeheim der kleinen Stadt Sulzburg im Südschwarzwald, sozusagen am Rand der bewohnten Welt, da man am Ausgang des Ortes nur noch zwei Kilometer durch schütteren Wald bis auf 500 Meter über dem Meeresspiegel höherfahren kann zum Hotel Bad Sulzburg, wo die Autostraße endet.
Vielleicht ist dort oben vor Urzeiten der Jäger Gracchus, von dem Kafka lange nach seinem (von Sebald nachempfundenen) Aufenthalt am Gardasee in Riva erzählte, auf der Jagd nach einer Gemse von einem Felsen gestürzt und in der Schlucht verblutet, wonach durch einen kleinen Fehler, eine Unachtsamkeit des Bootsführers, die Seele Gracchus‘ auf dem Weg vom Sulzbach zum Rhein den Styx verfehlte und nun seit Jahrhunderten die Meere und die Länder zu bereisen gezwungen ist.
Die Verschwundenen
Auf dem Weg hinauf zum Hotel Bad Sulzburg fällt der Blick rechts auf den versteckt liegenden jüdischen Friedhof, den niemand frequentiert, weil es im Ort keine Juden mehr gibt. Eine von Krüppelkiefern gesäumte Treppe führt hoch zum Wald, und auf den Terrassen stehen die Grabsteine wie krumme, stumme Beobachter. Die Inschriften sind hebräisch; nur links vom Eingang ist auf einem mächtigen Stein vermerkt, er sei 1970, zum 30. Jahrestag der »Auslöschung dieser altehrwürdigen, frommen Gemeinde« dort aufgestellt worden.
400 der 1200 Einwohner Sulzburgs waren vor 100 Jahren noch jüdischen Glaubens, und die Synagoge unweit der tausend Jahre alten Kirche St. Cyriak steht nur noch, weil im November 1938 befürchtet wurde, sie anzuzünden würde die ganze Stadt in Schutt und Asche legen.
Die Juden Sulzburgs wurden allesamt deportiert, und viele von ihnen landeten im Lager Gurs in Südfrankreich wie Maximilian Aychenwald, Austerlitz‘ Vater, der von Paris wohl dorthin verbracht wurde. Wer in Gurs nicht umkam, wurde in einen Zug nach Auschwitz gepfercht. Die Pizzeria »Der wilde Mann« hat kürzlich dichtgemacht, und in dieses Restaurant, das früher anders hieß, sind die Juden nach dem Besuch der Synagoge vermutlich gegangen und dann wieder zurück in ihre Häuser nahebei, und nun gibt es keine Spur mehr von ihnen. Wo sind die früheren Bewohner?
Austerlitz sagt über seinen Besuch im Ghetto Terezin, es schien ihm, als wären die Menschen dort nicht fortgebracht worden, »sondern lebten, nach wie vor, dichtgedrängt in den Häusern, in den Souterrains und auf den Dachböden, als gingen sie pausenlos die Stiegen auf und ab, schauten bei den Fenstern heraus, bewegten sich in großer Zahl durch die Straßen und Gassen …«
Evan, der walisische Schuster und Seher, führte den jungen Austerlitz in die Geisterkunde ein und wusste zu berichten, die Toten zögen zuweilen »in kleinen Schwadronen herum«. Sebald erwähnt die »Heerscharen der Toten« auch in Korsika anlässlich seines Besuchs auf dem Friedhof von Piana und erspähte in der Salpetrière »Heerscharen von Unerlösten« über eine Brücke steigen, ein Echo auf T. S. Eliots Zeilen »A crowd flowed over London Bridge, so many. / I had not thought that death had undone so many«. Sie stehen in dem Gedicht »The Waste Land«.
Ein derartiges Phänomen ist auch aus der Schweiz bekannt, wo nahe Zermatt der Taugwalder Gabriel einmal eine unsichtbare Prozession von Geistern wahrnahm, die trommelnd, pfeifend und den Rosenkranz betend gegen die Eggenalp ging. John Tanner hörte auf Hawaii eine Gruppe um ihren Häuptling dahingehen, die mitunter sich auch materialisierte.
Morgen Teil 2