Geister und das Leben nach dem Tod (Sebald/2)
Hier folgt die Fortsetzung des Beitrags Sebald, die Toten & die Zeit. W. G. Sebald hat oft über die Toten grschrieben und über Geister auch, ist ja genau mein Thema, und ich habe 3 Monate an meinem Wettbewerbsbeitrag gearbeitet, Sebalds Werke immer wieder gelesen und mir Sätze herausgeschrieben. Ein rätselhafter Autor, der viele Rätsel in seine Werke eingebaut hat.
Mein Beitrag ist natürlich sehr gelehrsam, und manchmal herrscht die Ansicht, Literatur sei Gefühl und Stimmung. Eine gewisse Geistfeindschaft lässt sich auf vielen Feldern bemerken. Zu viel Klugheit stößt die Leute ab.
Geister und das Leben nach dem Tod
Auch einzelne Geister streifen ruhelos umher. Wie sie zu erkennen seien, erläuterte Austerlitz Evan, der — wie der Korse Jean Cesari — sagte, die Geister sähen auf den ersten Blick aus »wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaue, verwischten sich ihre Gesichter und flackerten an den Rändern«.
Der russische Lyriker und Nobelpreisträger Joseph Brodsky, 1940 geboren und 1996 gestorben, begraben übrigens auf der Friedhofsinsel San Michele bei Venedig (erwähnt, da Sebald so oft Venedig besuchte), bemerkte in seinem Buch »Flucht aus Byzanz« (1988), die Kunst ahme eher den Tod als das Leben nach: »die Sphäre, von der das Leben nichts zu berichten hat«. Weiter schreibt er:
Im Bewusstsein der eigenen Kürze versucht die Kunst, die längste mögliche Lesart der Zeit einzuholen. Was letztlich die Kunst vom Leben unterscheidet, ist ihre Fähigkeit, einen höheren Grad der lyrischen Diktion zu erzeugen als sonst eine menschliche Umgangsform. Darum ist die Dichtung die Nachbarin — wenn nicht sogar die Erfinderin — des Lebens nach dem Tode.
Wir denken natürlich an die berühmten Jenseitsreisen der Literatur: Odysseus‘ Besuch im Hades, Aeneas‘ Ausflug dorthin, gestaltet durch Vergil, der seinerseits als Fremdenführer für Dante Alighieris Reisenden herhalten musste, der in der »Göttlichen Komödie« sämtliche Jenseitskreise durchmisst. Sebald vermutete in der Liverpool Street Station einen »Eingang zur Unterwelt«.
Für die deutsche Nachkriegsliteratur müssen wir an die »Jahrestage« von Uwe Johnson erinnern, weil er auf 1700 Seiten zwar nicht ins Jenseits reist, allerdings beharrliche Erinnerungsarbeit betreibt, von New York im Jahr 1967/68 zurückblickt auf Jerichow in Mecklenburg, Gesine Cresspahls Heimatort, während des Aufstiegs der Nationalsozialisten, und die Erzählerin Gesine erforscht Leben und Ende ihrer Mutter sowie ihres Vaters, um damit ihre kleine Tochter Marie zu instruieren. Assistiert wird sie dabei von einem weiteren Erzähler, dem »Genossen Schriftsteller«, der wie Sebalds Erzähler in »Austerlitz« das Faktische wiedergibt. Der letzte Satz der »Jahrestage« ist programmatisch: »Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort, wo die Toten sind; und sie, das Kind, das ich war.«
Mit Gerald Fitzpatrick flog Austerlitz einmal im Flugzeug über Sheerness in Kent hinweg, wo Uwe Johnson sein Werk abschloss und wo sein Leben endete: in seinem Arbeitsraum im Keller, in dem eine Bahnhofsuhr aus Mecklenburg hing.
Von einem Ort der Toten kehrt Oberst Chabert zurück: Er wühlt sich aus einem Leichenhaufen heraus und schwebt sechs Monate zwischen Leben und Tod. Zehn Jahre verbringt er als Obdachloser, bis er in Paris in einer Anwaltskanzlei versucht, seine Identität zu beweisen und sein Geld zurückzufordern.
Chabert fühlt sich »bestattet unter den Lebenden« und fragt sich: »Die Toten haben also Unrecht, wenn sie zurückkommen wollen?« Seine Frau, die wieder geheiratet und dem neuen Mann zwei Kinder geschenkt hat, gibt sich zunächst kompromissbereit, doch als der frühere Oberst hört, sie wolle ihn ins Irrenhaus Charenton einweisen lassen, ist sein Lebensmut gebrochen. Er gibt seinen Rang als Oberst auf und zieht sich in ein Altenheim zurück.
Im Austerlitz-Roman findet Véra in dem Band »Colonel Chabert« der Honoré-de-Balzac-Gesamtausgabe ein Bild von Austerlitz‘ Eltern, und er selber hat nach der Lektüre der nur 90 Seiten langen Erzählung den Verdacht, »dass die Grenze zwischen dem Tod und dem Leben durchlässiger ist, als wir gemeinhin glauben«. Austerlitz findet, als die Erinnerung hervorströmt, eine Erklärung für sein Gefühl des Verwaistseins und der inneren Leere. Er rekonstruiert seine Vergangenheit und findet einen Boden, auf dem er stehen könnte; indessen sind seine engsten Bezugspersonen vermutlich tot, und zuweilen ist ihm dennoch, als »kehrten die Toten aus ihrer Abwesenheit zurück und erfüllten das Zwielicht um mich herum«.
Die Menschen, die die Wartesäle mit ihrem »unterweltlichen Dämmer« bevölkern oder in Autobussen hocken, schlafend oder abwesend, wirken allesamt »krank und gram«, eher wie Lemuren oder Geister. Sie sind nur unwillige Komparsen in einer gebauten Welt, deren Monstrosität erdrückend wirkt. Es geht ja viel um das Verstoßen- und Ausgelöschtwerden, Dinge lösen sich auf wie in grauer Luft, und wenn Austerlitz ein Foto betrachtet, sind zuverlässig die Protagonisten nicht mehr wahrzunehmen: Ihre Gesichter sind verblasste, verblichene Flecken geworden, und Sebalds eigene Schwarz-Weiß-Fotos, ins Buch eingestreut, wirken wie beiläufige, enigmatische Schnappschüsse.
Austerlitz kündigt dem Erzähler an, er werde nach Paris reisen und nach dem Verbleib seines Vaters forschen. Er habe gemeint, »nie wirklich am Leben gewesen zu sein oder jetzt erst geboren zu werden, gewissermaßen am Vortag meines Todes«. In der Metro in Paris dachte er dann, »ich werde jetzt sterben müssen an diesem schwachen Herzen, das ich geerbt habe, ich weiß nicht, von wem«. W. G. Sebald ist bekanntermaßen am Ende des Jahres, in dem sein Roman erschien, gestorben (im Dezember 2001, 57 Jahre alt).
Seine Vorahnungen münden auf der vorletzten Seite des Romans in ein düsteres Bild: die Grube der Kimberley-Minen in Südafrika, heraufbeschworen von einem Autor, der seinen Schrecken kundtat, »einen Schritt vor dem festen Erdboden eine solche Leere sich auftun zu sehen, zu begreifen, dass es da keinen Übergang gab, sondern nur diesen Rand, auf der einen Seite das selbstverständliche Leben, auf der anderen sein unausdenkbares Gegenteil.«
Morgen Teil 3.