Gedächtnis und Erinnerung (Sebald/3)

Hier fängt das Hauptkapitel an, Gedächtnis und Erinnerung. Ohne Erinnerung sind wir nichts: Das sagt sich leicht. Später dachte ich mir: Solange ich weiß, wer ich bin — wozu brauche ich Erinnerungen? Das wird später nur Ballast sein. Wir sollten wie Buddhisten unser Ich auslöschen und nicht an früheren Tagen festkleben. Wir haben Erfahrungen gemacht, die unser Denken geprägt haben. So wie jetzt denken wir. Das soll uns genügen.

Gedächtnis und Erinnerung

Die Literatur behandelt indessen — um an Brodsky anzuknüpfen —häufiger als das Leben nach dem Tod dasjenige davor, das in der Rückschau ähnlich diffus und nebelverhangen wirken mag. Man ist von der eigenen Erinnerung oder von Dokumenten abhängig, und beide sind fragwürdig. Es scheint nichts Objektives zu geben; alles ist der Interpretation unterworfen, und jede Epoche verändert die Vergangenheit immerzu, erfindet sie neu.

Sich erinnern heißt ja wohl, sich vergegenwärtigen, was war; es hereinholen in die Gegenwart. Irgendwo hatte ich das schöne Wortspiel gelesen »He re-membered it«. Die »members« sind in der englischen Sprache ja die Glieder, und wer sich erinnert, setzt ein Puzzle zusammen, einen Körper, wie es in der ägyptischen Mythologie Isis vermochte, deren Gemahl Osiris von seinem Bruder Seth zerstückelt wurde. Isis sammelte Osiris‘ Glieder und erweckte ihn zum Leben, und gemeinsam zeugten sie noch einen Sohn, Horus, bevor Osiris zum Herrn der Unterwelt wurde.

Austerlitz sammelt Eindrücke und Informationen wie Puzzle-Steine, um das verlorene Paradies seiner Kindheit wiederzuerlangen, und er durchstreift dabei die Städte Antwerpen, London, Paris und Prag, und auf seinen Wegen durchforstet er Flora und Fauna, Gebautes und Untergegangenes. Es sind Friedhöfe, Bahnhöfe, Museen, Andenkenläden, Festungen und Paläste.

Die Museen, die er überall aufsucht, wo sie sich ihm anbieten, sind die Gedächtnisorte der Menschheit, und Objekte in Vitrinen sollen uns einen Aspekt der Vergangenheit nahebringen. Die Objekte sind, solchermaßen eingefroren,  zu Symbolen geworden. In den Museen ist Austerlitz (und auch Sebald in seinen Werken) meist allein wie auch auf den Friedhöfen, deren Grabsteine nur noch sagen: Diese Menschen haben einmal gelebt.

Grabinschriften sind ebenso Andenken und plastische Erinnerungen wie die Relikte, die nach Drancy und nach Theresienstadt Deportierte zurückzulassen gezwungen waren. Wie traurig die wenigen Stücke wirken, die Heschel zurückließ! Um sie alle herrscht eine Leere: die fast greifbare Abwesenheit ihrer ehemaligen Besitzer, und Austerlitz fragt sich im „Antikos Bazar“, was sie bedeuteten? Sie haben ihren Sinn eingebüßt.

Auch Festungen in ihrer durchplanten Gestalt sind oft ohne Sinn gewesen, da sie nicht angegriffen wurden; die Truppen zogen einfach vorbei und ließen den, der drinnen blieb, seiner fruchtlosen Erinnerungsarbeit. Wer da noch lebt, lebt wie auf einer Insel, und Bruno Bettelheim hat einmal den Autismus mit einer »leeren Festung« verglichen.

Manche Orte sind untergegangen und unsichtbar konserviert wie Museen — etwa das walisische Dorf Llanwddyn —, und eine Stadt wie London wuchs auf Gräberfeldern, wie alle Weltstädte alle paar Jahrhunderte ihre Vergangenheit negieren und sie mit Gebäuden »überbauen«.

Genauso liegt etwas in Austerlitz begraben, das er ahnt, aber nicht zu deuten und auch nicht ins Bewusstsein einzulassen vermag. In Marienbad hat er sich mit der Familie einmal aufgehalten. Der Kurort kommt ihm zuweilen fremd, dann wieder vertraut vor, Geheimnisse sind um ihn, aber nichts wird offenbar, keine Erinnerung stellt sich ein, und diese Versteinerung macht seiner Begleiterin Marie de Verneuil Sorge.

Dabei kommt einem der Film »Letztes Jahr in Marienbad« von Alain Resnais in den Sinn, in dem ein Mann eine Frau an ihr Versprechen aus dem vergangenen Jahr erinnert, sie werde dann mit ihm fortgehen. Sie jedoch will sich nicht erinnern, er dringt in sie — und erreicht es tatsächlich, dass sie nachgibt, indessen ohne rechte Überzeugung.

Austerlitz erlebt Erinnerungen, die »auftauchen und wieder versinken«, aber kann man ihnen trauen? Henri Beyle alias Stendhal war verwundert, dass sich ein Erinnerungsbild als „Gravure“ entpuppte, die er gekauft hatte, und Hemingway meinte, das Lesen könne einen zu dem Gedanken verleiten, an einem Ort bereits gewesen zu sein.

Bei Ohnmachtsanfällen erlebte Austerlitz eine zeitweilige »Auslöschung sämtlicher Gedächtnisspuren«, und in anderen Situationen ließ er eine Nachricht gar nicht an sich heran, als hätte eine übergeordnete Instanz eingegriffen. Und es gibt »schmerzhafte blinde Stellen«, an denen keine der eigentlich zu erwartenden Erinnerungen sind.

Eines Tages ist er gezwungen, das Hôpital Salpetrière in Paris aufzusuchen, in dem viele Jahre Pierre Janet wirkte, der vom »Unterbewusstsein« sprach und damit Goethe-Freund Carl Gustav Carus folgte, der schon 1846 das »Un-Bewusstsein« eingeführt hatte. 1889 schrieb Janet, traumatische Erfahrungen könnten das Gedächtnis betreffen und zu einer Abspaltung von Erfahrungen führen.

1904 veröffentlichte er den einflussreichen Aufsatz »Amnesie und Dissoziation von Erinnerungen durch Emotionen«. Die Dissoziation oder Abspaltung, bei der Material zeitweilig nicht mehr zugänglich ist, konnte sich jedoch gegen Freuds Begriff der Verdrängung nicht durchsetzen.  Bei der Behandlung der post-traumatischen Belastungsstörung erinnerte man sich jedoch wieder an Janet.

Schlimme Erinnerungen kann man sich zurückholen. Das Korsakow-Syndrom jedoch bedeutet völlige Amnesie, und der Regisseur Luis Buñuel sagte einmal: »Ohne Gedächtnis sind wir nichts.« Menschen wie Jimmie G. und William Thompson, die der Neurologe Oliver Sacks in einem Buch vorstellte, sind nur noch Phantome, die nichts mehr empfinden. Was sie erleben, ist gleich wieder vergessen; ihr Leben ist vor 30 Jahren stehengeblieben.

Dann wieder taucht Austerlitz in Labyrinthe ein und durchforstet Gebäude. Die Villen und Paläste mit ihrem verwirrenden Aufriss, mit im Nirgendwo endenden Treppen, geheimen Läden und verschlossenen Räumen erinnern an das Seelenleben, an das verborgene Reich des Unbewussten. Wer hat nicht schon von Wohnungen geträumt, in denen ein Zimmer nicht aufzuschließen war!

Sollte es sich auftun, gliche das womöglich einer plötzlich offenen Büchse der Pandora; ein Satz, ein Geruch, eine Impression könnte sie begleitende Erinnerungen zu Tage fördern. So erging es auch Austerlitz, als er im Antiquariat von Penelope Peacefull im Radio von den Kindertransporten hörte und sogleich wusste, »dass diese Erinnerungsspuren auch in mein eigenes Leben gehörten«.

Bisweilen sprudeln sie und überschwemmen den Menschen, so in Sebalds Erzählung »All’estero«. In einen Raum außerhalb fluten sie und fließen in ihn hinein »wie Wasser auf einem Wehr«. Das bringt Gefahren mit sich. Es gibt ja die Ansicht, das Gehirn wirke wie ein Filter, um uns vor zu vielen Eindrücken zu schützen.

Morgen folgt Teil 4.

Mit einem alten Freund über die Wahlen in Thüringen und Sachsen gesprochen. Er hört viel Radio, weil er blind ist und erzählte, wie stundenlang Leute erzählen durften, warum sie AfD wählen werden und gewählt haben. So war das auch vor den Wahlen. Die Medien haben ihre Furcht vor dieser »rechtsextremen Partei« (warum durfte sie überhaupt an der Wahl teilnehmen, wenn sie so extrem ist?) zelebriert und sie damit auch hochgebracht; es war zum Teil eine »self-fulfilling prophecy«. — Sie haben auch damals andauernd über Corona geschrieben und die Krankheit uns so richtig eingebrannt, und so blieb sie auch. Ähnlich ist das mit den Attentaten. Da fuhren Menschen mit Auto in die Fußgängerzone und fuhren Menschen tot. Ausführlich wurde darüber berichtet. Das wiederholte sich gleich, irgendein Idiot ahmt das nach. Man schrieb von Messerattacken; und sie wiederholten sich. Die Medien sind eine Pest, sie verseuchen unsere Gehirne.

Übrigens: NEU findet ihr Fotos mit witzigen Kommentaren auf meiner Instagram-Seite.

 

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