Erinnerung und die Zeit (Sebald/4)
Von der Erinnerung geht es hinüber zur Zeit, die von jener nicht zu trennen ist. Ich denke viel über die Zeit nach beziehungsweise über ihre Abwesenheit in der Geistigen Welt, über ihre Zirkularität, in der die Zukunft die Vergangenheit beeinflusst, die wandelbar ist und in anderen Welten eine andere sein kann.
In der Erzählung »Das unerbittliche Gedächtnis« von 1942 hat Jorge Luis Borges einen jungen Mann vorgestellt, Ireneo Funes, der sich an alles erinnert und jedes Detail abspeichert. Seine Welt war mit Einzelheiten vollgepfropft, doch denken gelang ihm nicht, denn denken heißt abstrahieren, verallgemeinern, reduzieren. Borges dachte dabei an James Joyce, der im Jahr zuvor gestorben war und in seinem Roman »Ulysses« den 16. Juni 1904 in Dublin in einer ungeahnten Totalität schilderte.
Erinnerungen sind wohl assoziativ angeordnet in Clustern und Serien, Kreisen und Kaskaden, im Gehirn als der »Hardware« zwischengespeichert, original jedoch in der Bewusstseins-»Cloud« anwesend. So müssen wir das sagen, wenn wir die Erlebnisse bei den vielen tausend Nah-Tod-Erfahrungen ernst nehmen, wobei zuweilen sogar ein klinischer Tod zu verzeichnen war, die Zeugen dennoch erzählen konnten, was die Ärzte bei der Operation an ihrem Körper sprachen. Sie behielten ihr Bewusstsein und ihr Gelerntes.
Nur wenige Forscher nahmen das ernst. Einer war Sir John Eccles. Er war stets unzufrieden mit dem materialistischen Credo, das Gehirn habe das Bewusstsein erzeugt; er wollte das immaterielle Bewusstsein als »Programmierer« des Gehirns sehen. Andere verglichen das Gehirn mit einem Fernsehgerät, das Programme (das Bewusstsein) übertrage; fraglos ist es das komplexeste Organ des menschlichen Körpers und dessen Steuerungszentrale.
Der Baustil der kapitalistischen Ära, die ins Monumentale ging, faszinierte Austerlitz, und gleichermaßen die »Idee eines Netzwerks« die »mit dem gesamten System der Eisenbahnen verbunden sei«. Der Leser konnte dann in der Bibliothèque Nationale in Paris miterleben, »wie die Rohrpostnachrichten aus den Lesesälen in die Magazine sausten«, und 1956 hat bekanntlich Alain Resnais einen Film darüber gedreht, der von einem Sprecher mit blechernd tönender Intonation kommentiert wurde, in der das Faszinosum einer modernen Zeit mitzitterte.
Die Bibliothek begrub die alten Lagerhallen mit den Hinterlassenschaften der Deportierten von Drancy, und Bibliothekar Lemoine spricht über die »im Gleichmaß mit der Proliferation des Informationswesens fortschreitende Auflösung unserer Erinnerungsfähigkeit«, wobei damals, im Jahr 2000, das Internet noch in den Kinderschuhen steckte. Heute, 25 Jahre später, scheint das gesamte Wissen des Planeten dort versammelt zu sein, doch wenige nutzen dies.
Diese Gesellschaft orientiert sich an einer vagen Zukunft, die in leuchtenden Farben ausgemalt wird; die Vergangenheit ist nicht existent, erhält auch wegen einer Unzahl von »Events«, Details und Kommentaren keine rechten Konturen mehr. So spielt sich alles im luftleeren Raum ab ohne festen Boden, in einer zeitlosen Zeit, ohne dass die Zeit thematisiert würde.
Die Zeit
Die Zeit ist laut Austerlitz die »weitaus künstlichste« aller menschlicher Erfindungen. Die gelebte Zeit ist eine andere als die gemessene, und von der gemessenen weiß man eigentlich nicht, was sie misst.
Nasir Khusraw schrieb im 11. Jahrhundert: »Die Seele ist im Horizont der Erzengel und nicht in der Zeit: es ist die Zeit, die im Horizont der Seele ist.« Meister Eckhard erwähnte im 14. Jahrhundert »Gottes ewiges Nun«. In der Tat scheinen weit zurückliegende prägende Ereignisse völlig präsent, wie gestern geschehen. Véra sagt so schön: »Wenn einem die Erinnerung kommt, glaubt man mitunter, man sehe durch einen gläsernen Berg in die vergangene Zeit.«
Austerlitz und der Erzähler nehmen ihr unterbrochenes Gespräch nach 20 Jahren wieder auf, als habe sich das letzte erst gestern abgespielt; zwölf oder dreizehn Jahre sind bei Véra »ein einziger qualvoller Punkt«, und ich, 1957 geboren, dachte mir zuweilen: Das war ja kurz nach Ende des Kriegs! Austerlitz schien die Zeit nach seiner ersten Abreise von Prag stillgestanden, und eine einstündige Reise kam ihm wie eine wochenlange vor. Ein gelebtes Leben kann einem in der Rückschau vorkommen wie ein einziger Atemzug, und ein langweiliger Tag kann scheinbar unendlich dauern.
Diese Paradoxien, schön auch abgehandelt in Thomas Manns »Zauberberg«, traten uns auch im Mythos entgegen, speziell bei Jenseitsreisen. Die Zeit unserer Seele kann wohl mit der Zeit der anderen Dimension verglichen werden, über die es schon bei Paulus heißt, in Gottes Reich seien »tausend Jahre wie ein Tag«. Rip van Winkle spielt mit Jenseitigen einen Abend lang Kegel (Max Frisch verwendete Washington Irvings Erzählung im »Stiller«), und als er zurückkehrt, sind 100 Jahre vergangen, und ähnlich erging es den Besuchern im irischen Feenreich.
Der Fluss der Sebaldschen Prosa (der berühmte »Sebald-Sound«) ist der Versuch der Realisierung einer zeitlosen Zeit. Ein Freund aus Berlin sagte mir: »Wenn du Sebald liest, vergeht die Zeit langsamer.« Da gibt es einen Satz, der siebeneinhalb Seiten lang ist (wenn ich nicht einen Punkt übersehen habe): die Schilderung des Theresienstadt-Systems. Es wirkt wie der Versuch, die Zeit zu ignorieren, indem ein sprachliches vermeintliches »Perpetuum mobile« entsteht, das abrollt und nicht mehr aufhört, auch wenn der Autor nicht mehr ist: »vollends verschollen ist«, wie die letzten beiden Wörter des Endlossatzes lauten. Verschollen sind auch alle in dem Film über Theresienstadt, von dem Austerlitz eine Zeitlupenkopie anfertigen lässt, und auch dieser lässt uns den Bezug zur Realität verlieren, löscht die gewohnte Zeit aus.
Der Schriftsteller W. G. Sebald hat intuitiv vieles aus anderen Dimensionen geahnt, das der Wahrheit entsprechen könnte. Swedenborg jedenfalls meinte um 1750, die Engel, mit denen er verkehrte, wüssten nicht, was die Zeit ist. Für sie gebe es nur Zustände, die sich verändern oder nicht, und ein dauerndes Jetzt.
Morgen der letzte Teil.
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Vorgestern schimpfte die BILD-Zeitung: Wann die Ampel endlich begreifen würde, dass die Bürger genug hätten? Dass sie eine andere Regierung wollten. Im Osten hatten die Grünen und die SPD immer einen schweren Stand. Die Regierung schneidet immer schlecht ab. Von rechts (oder halbrechts) kommt dann die CDU und lastet Scholz und der SPD an, was Angie (Merkel) in den 16 Jahren ihrer Regierung verschlief, weil sie gemacht hatte, was sie bei ihrem Mentor Kanzler Kohl (auch er 16 Jahre im Amt) gelernt hatte: möglichst viel aussitzen.
Was könnten die Leute für eine andere Politik wollen? Raus aus Europa, Grenzen dicht, Tempo 30 weg, Germany first — wie’s die AfD will? Deutschland sei das letzte Land, das man wieder groß sehen möchte, meinte die New York Times. Olaf Scholz war kein schlechter Kanzler, er besitzt Augenmaß. Dem Lindner von der FDP hätte er mal die Meinung sagen sollen, der spielte sich zu sehr auf. Überhaupt: FDP und Grüne, das geht nicht, das begreift jeder, das war der Geburtsfehler dieser Koalition, die nur das Land regieren wollte. Und wenn man eine windschiefe Regierung bastelt, nur um die AfD fernzuhalten, wird das genauso jämmerlich enden.
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