Nochmals: die Zeit (Sebald/5)
Im letzten Teil steht alles, was mich begeistert. So viele Welten könnte es geben, ein ganzer Kosmos tut sich auf, und was ist dagegen Literatur, wenn sie nur Varianten von Liebesbeziehungen durchspielt? Das Abenteuer ist die Wirklichkeit, aber nicht diejenige von Liebespaaren, sondern die, die wir nicht sehen. Die auf uns wartet. Das Ende ist schön und poetisch auch. Science Fiction kann poetisch sein.
Sebald schrieb in seinem Austerlitz-Roman:
Alle Momente unseres Lebens scheinen mir dann in einem einzigen Raum beisammen, ganz als existierten die zukünftigen Ereignisse bereits und harrten nur darauf, dass wir uns endlich in ihnen einfinden … und ist es nicht denkbar, dass wir Verabredungen in der Vergangenheit haben?
Er hatte zudem die Hoffnung geäußert, »dass die Zeit nicht verginge, nicht vergangen sei, dass ich hinter sie zurücklaufen könne, dass dort alles so wäre wie vordem oder, genauer gesagt, dass sämtliche Zeitmomente gleichzeitig nebeneinander existierten, beziehungsweise dass nichts von dem, was die Geschichte erzählt, wahr wäre, das Geschehene noch gar nicht geschehen ist, sondern eben erst geschieht, in diesem Augenblick, indem wir an es denken …«
Immer wieder hören wir von der anderen Welt, dort gebe es keine Zeit, nur die pure Gegenwart, zeitlos, und nur der »immer jetzt sich gerade ereignende Augenblick« (Austerlitz) ist die gültige Perspektive: In ihm ereignet sich alles.
Die Amerikanerin Jane Roberts »channelte« 15 Jahre lang Seth, einen Weisen (oder eine Gruppe von Weisen) aus einer anderen Dimension. Roberts‘ Mann zeichnete die Sätze auf. So entstanden drei Bücher von insgesamt 1000 Seiten (Seth Speaks; Unknown Reality 1 und 2), die auch von US-Universitäten akzeptiert wurden.
Seth erklärt, dass die Realität stets »im Zustand des Werdens« sei. Wir wüchsen in einen bereits vorgefertigten Zustand hinein wie die Knospe in die Blüte. »Du bist dir nur eines kleinen Teils deines Selbst bewusst … Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren gleichzeitig. … Alle Systeme werden andauernd erschaffen. … Alle wahrscheinlichen Welten existieren jetzt.«
Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) belegte in seinem Buch »Aufbau der Physik« physikalisch, dass eine Welt des andauernden »Jetzt« denkbar sei. Unsere klassische Physik ist ja nur ein Sonderfall der Quantenphysik, einer größeren Wahrheit, und Weizsäcker schreibt: »Der wahre Gang der Welt dürfte weder räumlich noch zeitlich lokal sein.« Das bedeutet: keine Zeit, kein Raum, weder Ursache noch Wirkung. Einen echten Zeitpunkt für die Gegenwart könne man nicht bestimmen; man müsse eine »umfassende Gegenwart« bemühen.
Könnte man, schreibt Weizsäcker, »die ganze Welt in die Beschreibung einbeziehen, so erwiese sich ihre Geschichte als ein einziger individueller Prozess in einer allumfassenden Gegenwart.« Die »Faktizität einer Zukunft«, auf die sich die Welt hinbewegt, sei dabei nicht logisch ausgeschlossen.
Lebt die Vergangenheit? Der Historiker Pausanias schrieb, noch 400 Jahre nach der Schlacht von Marathon zwischen Persern und Griechen habe man das Wiehern von Pferden und die Rufe von Soldaten vernommen. Und manch ein medial Begabter konnte einen Stein umfassen und angeben, woher er stammte und wo Ruinen zu finden seien, was der Archäologie half. Der Pole Stefan Ossowiecki (1877-1945) besaß diese Begabung. Auch Wasser reagiert auf unser Bewusstsein und besitzt, wie Emoto Masaru nachwies, ein Gedächtnis.
Im August 1901 fühlten sich die englischen Lehrerinnen Charlotte Moberly und Elaine Jourdain in Versailles plötzlich in die Zeit von Ludwig XVI. zurückversetzt, sahen die Menschen von damals und hörten ihre Musik, und die Atmosphäre schien düster und leblos.
Erinnerungsspuren könnten sich in unserer Welt erhalten haben. Im Londoner Krankenspital Bedlam fragt sich Austerlitz, »ob das Leid und die Schmerzen, die sich dort über die Jahrhunderte angesammelt haben, je wirklich vergangen sind, ob wir sie nicht heute noch, wie ich bisweilen an einem kalten Zug um die Stirn zu spüren glaubte, auf unseren Wegen durch die Hallen und über die Treppen durchqueren.«
Ich stand mit meiner Mutter im ersten Stock eines Gebäudes in Rom, Via Tasso 145, als sie, die stets nüchterne, praktisch veranlagte Frau, plötzlich sagte, ihr sei unwohl, sie fühle eine schreckliche Kälte um ihre Waden. Wir verließen das Haus, das ehemals (1943/44) das Gestapo-Hauptquartier in Rom gewesen war, vergleichbar mit dem von Austerlitz erwähnten Petschek-Palais in Prag. Da wurde verhört, gefoltert und erschossen.
Die Zukunft ist nicht festgelegt, aber in Grundzügen bereits vorhanden. Der Engländer John Dunne behauptete in seinem Buch »An Experiment with Time«, 30 Prozent unserer Träume hätten künftige Ereignisse zum Thema, und auch der Australier Robert Moss, der das »aktive Träumen« unterrichtet, hält Träume für »Erinnerungen an die Zukunft«. Und das Déjà-Vu-Phänomen könnte auch mit der Zukunft zu tun haben: Sie ist womöglich ein präkognitiver Eindruck, der sich in der Gegenwart realisiert — und ist in diesem Sinn auch eine Erinnerung.
Die Viele-Welten-Theorie von Hugh Everett III., die behauptet, bei jeder Entscheidung spalte sich das Universum in zwei Welten, konnte nie widerlegt werden, nur sitzen wir mit unsrem Bewusstsein in der Welt mit der geschehenen Entscheidung. Andere wahrscheinliche Welten nehmen wir nicht zur Kenntnis, weil wir sie nicht sehen können, doch haben Astralreisende Welten besucht, die sich nur um Weniges von der unsrigen unterschieden.
Seth sagt, unsere umfangreiche seelische Existenz sei mit einem Buch zu vergleichen, und wir schrieben viele solcher Bücher. Wir befinden uns soeben auf der letzten Seite und schreiben weiter, doch alle anderen Seiten existieren zur selben Zeit, wir können zurückblättern und in frühere Szenen eintreten. Einige Menschen haben bei Nahtod-Erfahrungen das »Buch ihres Lebens« betrachten können; Heather Mae sagte, es sei dick gewesen, sie habe wohl viele Leben hinter sich.
Seth: »Du schreibst und erschaffst einen Figur, die andere Figuren erschafft.« In glücklichen Momenten spüre man einen Anflug von »göttlicher Komödie«. Ein Schauspieler verschwinde hinter den Kulissen, um in einer neuen Rolle aufzutreten, wobei es darum gehe, Erfahrungen zu machen, weshalb der Prophet in einer Szene in der nächsten den Verräter mime.
Das Bewusstsein teile sich in unterschiedliche Vertreter auf, und auf Jenseitsreisen haben manche — wie etwa Judy Hilyard — Hunderte andere getroffen in Kostümen, die sie begrüßten und ihnen bekannt vorkamen, denn alle waren … sie selbst. Wir Menschen seien Schauspieler und Reisende und ungeheuer kreativ, sagt Seth. Die »innere Literatur des Bewusstseins« sei äußerst reichhaltig und gewiss vergleichbar mit dem Schriftsteller, der sein Selbst auf unterschiedliche Personen verteilt.
Am Ende des Austerlitz-Romans werden wir mit der zyklischen Zeit konfrontiert: wieder Antwerpen und Breendonk. Am Beginn wie am Ende liegt eine Frau hingestreckt. Wir sehen den Zyklus ja im Ablauf der Jahreszeiten, und manche Kulturen haben ihn noch weiter gefasst: Das Universum entsteht, vergeht und entsteht von neuem. In der persischen Religion wird vom mythischen Berg Qaf gesprochen, und Henry Corbin schrieb in »Mundus imaginalis«: »So weit du auch gehen magst, es ist der Ausgangspunkt, den du wieder erreichst.« Dazwischen wird sich ein mythisches Ereignis vollzogen haben; das Selbst ist identisch mit seinem himmlischen Selbst jenseits des Berges.
Auf der Chinvat-Brücke trifft das Selbst seine himmlische Seele, und sie ist strahlend schön, wenn man gut gelebt hat, und in Sebalds Fall trägt (oder trug) sie vermutlich einen gelben Rucksack. Die anderen Beteiligten treten später auf, und dann wird beratschlagt, wie man es bewältigt hat, das Leben.
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Ein Nachwort
Vor 3 Jahren erschien die Biografie »Speak, Silence« der Amerikanerin Carole Angier, die schon über Jean Rhys und Primo Levi geschrieben hatte. Das zu wissen, hätte nichts an meinem Aufsatz geändert: Es ging ja um das Werk Sebalds, den Freunde Max nennen durften. Carole Angier war eine Freundin und kannte den Autor gut, weil sie seine Arbeit verehrte. In einem Interview spricht sie über ihn, und sie verteidigt ihn. Er sei ein ziemlich depressives Genie gewesen, ein Visionär, ein wahrer Künstler. Ein Vorwurf, den sie ihm machte, wird in dem Interview nachvollziehbar. Sebald benutzte Quellen und Material von Menschen seiner Umgebung, und zuweilen hätte er ruhig in einer Fußnote angeben können, welche Geschichte ihn bewegt hatte. Manchmal log er beim Erzählen auch; vielleicht sogar nicht bewusst. Austerlitz ist jedenfalls eine fiktive Person, und Sebald gelang es, sie völlig lebensecht zu zeichnen. Das schafft Literatur.
Übrigens: NEU findet ihr Fotos mit witzigen Kommentaren auf meiner Instagram-Seite.