Jamie Wheal will uns verzückt

Vor zwei Jahren ließ Anthony Chene einen englischen Ethnologen und Autor sprechen, der seinerzeit das Buch Recapture the Rapture geschrieben hatte. Das ist ein unübersetzbares Wortspiel und heißt etwa: Hol dir die Verzückung zurück! Jamie Wheal, so heißt der beredte, begeisterte und begeisternde Redner, will, dass wir uns selbst überraschen, kreativ werden und anderen davon mitteilen.

Das war so grob die Botschaft, die er uns mitgab, sollten wir einmal an einem Tiefpunkt angelangt sein oder uns langweilen:

Such die Neuigkeit, fabnriziere Kunst, hilf Anderen!

Das Neue und die Überraschung belebten uns, dafür seien wir gemacht. Kunst fabrizieren heißt einfach, etwas zu tun, was neu ist und uns verzückt, und das sollten wir anderen auch mitteilen. Wheal wollte zunächst nur studieren, fand dann aber das Bergsteigen und das Leben draußen spannender. Er studierte Ethnologie und Geschichte, zog mit seiner Frau auf einen Berg, wo sie Kinder hatten, doch dann mussten sie wieder hinunter zu den »Mühen der Ebenen«, wie Bertolt Brecht das einmal sagte. (Immer wenn ich Brecht schreibe, denke ich an Ernst Decker, mit dem ich im Pflegeheim jahrelang einen beglückenden Austausch über Literatur hatte, bis er Ende vergangenen Jahres überraschend starb.)

Jamie Wheal versuchte, jungen Firmenchefs Erlebnisse in der Natur zu schenken, damit diese ihre Firmen umstrukturierten, hin zu weniger Output und mehr Geist. Das klappte aber nicht, die CEOs wollten ihre Geldmachmaschinen nicht stoppen. Die alten Fragen blieben: Wie bewältigen wir unser Leben? Wie kommen wir mit dem Scheitern zurecht? Wie erreichen wir Glücksgefühle? Wheal wies auf das Buch The Obstacle Is the Way von Ryan Holiday hin, das hatten wir ja schon: Das Hindernis ist der Weg. Wenn du fällst, fall das nächste Mal besser; falle und stehe wieder auf.

Etwas schien er auch direkt zu mir zu sagen, es traf mich: Wer nur der Transzendenz nachjage, verbrenne sich. Damit verliere man seine Fähigkeit, zwischen den Welten zu vermitteln. Ich bedauere ja, dass ich keine überirdischen Erfahrungen mache (doch ich setze mich auch nicht auf einen Berg und meditiere jahrelang), und ich lebe sehr intensiv in meiner Gedankenwelt mit dem Jenseits und anderen zeitlosen Welten; da besteht die Gefahr, dass mir die reale Welt entgleitet, der ich ja etwas sagen will. (Dagegen hilft das Radfahren und eben das Leben draußen.)

Man solle in der Welt verankert bleiben:

Schlaf mehr, beweg dich viel, hab Sex, trauere, sei dankbar!

Das ist nicht übertrieben originell, doch es gibt heute Menschen, die immer unterwegs sind zum nächsten Kick, und das kann zur Sucht werden. Du musst vom Berg wieder herunterkommen, sagt er ganz pragmatisch. Bleib zentriert! Geh einen Marathon laufen. Wir widmen uns nicht völlig einer Tätigkeit, weil wir tief innen traurig sind und eigentlich in den Mutterschoß zurückwollen. Kann schon sein. Die Tragik begleitet unser Leben, und wir müssen mit ihr zurechtkommen.

Doch Jamie Wheal ist auch ein engagierter Autor.

Jeder hat ein gutes Leben verdient. Alle sollen es gut haben oder keiner. Als ich mein Buch fertig hatte, hatte ich geschrieben, dass 68 Menschen, die eng gepresst in einen Autobus passen, soviel besitzen wie eine Hälfte der Weltbevölkerung. Dann checkte ich die Fakten und fand: Heute sind es 26, die passen fast in eine Stretch-Limousine. 

Und eine weitere gute Bemerkung:

Befreit den Markt! Er ist nicht frei. Schafft einen freien Markt mit möglichst wenig Einschränkungen.

Über die Zukunft des Erdballs äußerte er sich noch, doch das sind Spekulationen. — Wie immer unterlegte Anthony Chene die Ausführungen seines Gasts mit wunderschönen Bildern von nächtlichen Städten, aus der Luft betrachtet, und mit untereinander verbundenen Highways, hinter denen die Sonne untergeht. Ich orientiere mich an ihm, wenn ich einen Chene-Film behandle, und ich hoffe, ich habe es gut gemacht.

 

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