Das wahre Afrika?

Was fasziniert uns an Afrika? Ist es das völlig Fremde, das Gefährliche, das überschäumende Leben? Annemarie Schwarzenbach reiste in den Kongo, und wenn man sie fragte warum, wusste sie es nicht. 50 Jahre nach Marlowe, der in Conrads Herz der Finsternis erzählte, tauchte sie in die Wildnis ein.

Doch zunächst die Stadt Léopoldville, benannt nach dem belgischen König, der auch am Kolonialgeschäft teilhaben wollte. Annemarie (oder Miro) gehört bald dazu und unterhält sich mit Diplomaten und Journalisten.

Léopoldville, früher

Melania Mazzucco schildert die Atmosphäre und ihre Gefühle so:

Keiner ihrer neuen Bekannten in Léopoldville gefiel ihr wirklich, und auch sie gefiel niemandem. Niemand schien glücklich darüber zu sein, hier zu sein, hier zu leben, und keiner konnte sich daran erinnern, warum er gekommen war. Was auch immer sie suchten, sie hatten es nicht gefunden. Sie konnten nicht fortgehen und ertrugen es nicht zu bleiben. Von der Welt draußen wussten sie nichts, und von der drinnen wussten sie zuviel. Alle schienen etwas zu erwarten, aber … das einzige, was ihnen am Ende geschah, war, dass sie krank wurden. Sie bildeten eine geschlossene Welt mit festen Regeln und Riten, hoffnungslos und eng. Sie hatten sich in einem dichten Netz von Intrigen, Schmeicheleien und Klatsch verfangen. Sie schlugen die Langweile mit Verleumdungen und Komplotten tot. Die Atmosphäre war voller Gift und Spannungen.

Ach, ist das nicht herrlich? Eine Geschichte aus der Vorhölle. Die Weißen lassen es sich gutgehen und leben in ihrem Ghetto. Jeder Fremde erregte Argwohn. Dabei waren sie selbst Fremde, die sich eine In-Group gebaut hatten. Das passiert überall: die Firma, die Clique, die Familie. Zu ihnen gehört man, doch überall anders ist man fremd und unwillkommen. So sollte das nicht sein.

Annemarie gelangt nach Lisala im Kongo. Wie ist es dort? Das Landesinnere. Die Welt sah aus wie vor Millionen Jahren, keine Spuren von Zivilisation. Das wahre Afrika. Ihr Ich löste sich auf, »verschluckt von alledem, was existierte«. Doch auch da: die Weißen in ihrer bubble.

In Lisala lebten fünfundvierzig Weiße, schemenhaft wie Gespenster. … Es waren Händler,  Handelsvertreter, Siedler — sie lebten ein Leben in der Schwebe, irreal. Sie erwarteten etwas Unbestimmtes — vielleicht den Brief, der sie in die Stadt zurückrief, Nachrichten von Verwandten und Kindern, die in Belgien geblieben waren, vielleicht das Flugzeug, das jede Woche von Léo nach Stanleyville flog, die Schlafkrankheit — oder den Tod. Viele hatten schon drei Jahre Dienst hinter sich und verspürten ein dringendes, verzweifeltes Bedürfnis nach Urlaub. Aber sie konnten weder abberufen noch ersetzt werden …

Das Hauptereignis in ihrem Leben bestand in der Ankunft des Schiffes alle zwei Wochen, das Nahrungsmittel, Fleisch, Butter, Gemüse und frisches Obst brachte. Dann fuhr das Schiff wieder ab, schien in einer Wolke aus Nebel, Rauch und Dampf zu verschwinden, und es begannen neue Wochen des Wartens. Niemand arbeitete, und niemand schien etwas zu tun. Sie wunderte sich nicht darüber. Um hier zu arbeiten, brauchte man mehr Energien als anderswo, und niemand hatte sie.   

So schön existenzialistisch ist das. Wie Gefängnis. Der Mensch, auf sich zurückgeworfen. Wer bin ich? Was tue ich hier? Man könnte einen philosophischen Zirkel gründen, ein Musikinstrument lernen, einen Roman schreiben, doch auch dafür braucht man Energie. Seltsame Welt.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.