Aléfa (Wer?)

Drüben im Elsass fand ich ein Büchlein der Autorin Andrée Chedid, La cité fertile. Ich wollte gerne darüber schreiben, fragte mich aber: Interessiert das wen? Schließlich fiel mir ein, eine Episode aus dem 1972 erschienenen Buch zu verwenden, die einem im Gedächtnis bleibt und die zu weiterem Nachdenken anregt. Aléfa heißt die Protagonistin. Sie lebt in einem Hochhaus in der Nähe der Seine und kleidet sich stets in Blau. 

Aléfa erzählt von sich und von der großen Stadt, die ja soeben im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit stand, weil dort die Olympischen Spiele 2024 stattfanden. Die Athletinnen und Athleten beim Triathlon sprangen sogar in die Seine! Viel passiert nicht in dem Buch, Aléfa ist schon alt, tanzt trotzdem, ist an allen Menschen interessiert und hat als engere Freunde nur eine Schauspielertruppe, die aus Simon und Livie und deren beiden Kindern besteht. Da ist immer Krise, Marc will Livie erobern, am Ende probiert es Paul, Simon ist oft unterwegs.

Ein Agent will die Araberin als Frau ohne Identität enttarnen und fragt nach ihren Papieren, doch gegen ihre Lebenslust kommt er nicht an. Aléfa tanzt und mischt sich in das Leben ihrer Mitmenschen, sie liebt die Menschen und will ihr Gutes. Doch sie provoziert auch gern. Sie weiß, dass sie Außenseiterin ist und nützt das aus. (Links ein Bild von Christine Baillon, Autres périodes. Ihre Homepage hier. Sie heißt auch Christine, wie unsere verstorbene Künstlerin und Freundin.)

Bei einer Party läuft sie herum, streckt sich auf Sofas aus, schaut Leute provozierend an, und dann pickt sie sich ihr Opfer heraus. Es ist ein vielleicht 50-jähriger Mann, um den sich eine Reihe Bewunderer geschart hat, weil er leidlich bekannt ist und gut zu reden versteht. Aléfa baut sich vor ihm auf und verlangt zu wissen: »Wer sind Sie?« Der Mann grinst und wundert sich, dass sie ihn nicht kennt. Nach der nächsten Frage »Qui?« (Wer?) rückt er mit seinem Namen heraus, nach der dritten Frage Aléfas nennt er noch sein Geburtsdatum und die Straße, in der er wohnt. Aléfa lässt nicht locker. Sie hält ihn am Ärmel fest und fragt erneut: »Qui?« Das wird nun aber peinlich.

Nach dem fünften Mal ist er genervt und übergibt ihr seine Visitenkarte, doch das hat die Frau nicht gemeint. Was hat sie gemeint? Was will sie? Wer ist sie selbst? Die vielen Fragen, dieselbe Antwort, und wenn man ein Wort zehn Mal hintereinander ausspricht, verliert es seinen Sinn und ist nur eine Kombination von Buchstaben. (Als Kinder haben wir das gern gemacht.) Acht Mal fragt ihn Aléfa (wohl das weibliche Alfa, Aleph, der erste Buchstabe!). Sagen will sie: Bist du dein Name? Dein Wohnort? Deine Position? Erschöpfst du dich darin? Wer bist du?

Fünf Studentinnen und Studenten saßen in Heitersheim nach dem Chilbi-Fescht am Marktplatz und sahen dem Abbau zu. Eine von ihnen hatte schöne blaue Augen. Sie sprachen englisch. Dann fragten sie mich, ob ich aus Heitersheim sei, und ich begann, mein Leben zu erzählen mit den Büchern, dem Blog, den Rad, und als ich von ihnen Abschied nahm, war ich stolz und dachte mir: Hey, du bist ja eine interessante Persönlichkeit, mit der ich gerne reden würde, würde ich sie treffen! Manchmal darf man auch zufrieden mit sich sein, kleingemacht hat man sich lange genug.

Ich bin also das, was ich tue. Und mehr. Wer bin ich wirklich? Ein gelähmter Bewohner, den ich besuchte und der irgendwie verwirrt war, sagte mir, meinen Namen kenne er, ich sei der Mani, aber: »Wer bist du wirklich?« Nach allem, was ich weiß, bin ich derzeit in dieser Rolle in der Provinz engagiert, doch nicht für immer. Meine Individualität ist mehr, und erst meine Überseele in der anderen Welt!

Vielleicht wissen wir alles erst am Ende unseres Lebens, das für Aléfa bald herannaht, und die Autorin lässt sie denken und fühlen und beschreibt so deren  letzten Sekunden auf der Erde. Aléfa musste niemand sein, sie hatte nicht einmal einen Familiennamen; sie lebte und litt und verwirklichte sich.

Die Autorin Andrée Chedid war 1920 im Libanon geboren und starb 2011 in Paris, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte.

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