Der Prophet über Schuld und Sühne
Das Buch Der Prophet, vor 100 Jahren erschienen, wurde zum bekanntesten Buch des Mystikers Khalil Gibran (1883-1931), der im Libanon geboren war und viel in den Vereinigten Staaten lebte. Gibran lässt den Propheten weise Worte sprechen, die auch heute noch geschätzt werden.
Wegen der gestrigen Flatliners hören wir, was der Prophet zu Schuld und Sühne spricht (und morgen seine Bemerkungen zu Gut und Böse). Almustafa, der Erwählte, hat zwölf Jahre gewartet, dass sein Schiff kommen möge. Nun ist es da. Die Ältesten der Stadt bitten den Propheten, doch zu bleiben. Die Seherin Almitra jedoch begreift, dass er gehen muss; dann bittet sie ihn so poetisch:
Daher mach, dass wir uns selbst erkennen, und sage uns alles, was dir gezeigt wurde von dem, was zwischen Geburt und Tod ist.
Von Schuld und Sühne
Dann trat einer der Richter der Stadt vor und sagte:
Sprich uns von Schuld und Sühne.
Und er antwortete und sagte:
Wenn euer Geist mit dem Wind wandert,
Begeht ihr, allein und unbewacht, ein Unrecht an
anderen und dadurch an euch selber.
Und für dieses begangene Unrecht müsst ihr am Tor
der Seligen anklopfen und eine Weile unbeachtet warten.
Wie der Ozean ist das Göttliche in euch;
Es bleibt ewig unbefleckt.
Und wie der Äther erhebt es nur die Beflügelten.
Wie die Sonne auch ist das Göttliche in euch;
Es kennt nicht die Gänge des Maulwurfs, noch sucht
es die Höhlen der Schlange.
Doch das Göttliche wohnt nicht allein in eurem Sein.
Vieles in euch ist noch Mensch, und vieles in euch ist
noch nicht Mensch, (…)
Und von dem Menschen in euch möchte ich jetzt
sprechen. (…)
Oft habe ich euch von einem, der ein Unrecht begeht,
reden hören, als sei er nicht einer von euch, sondern
ein Fremder und ein Eindringling in eure Welt.
Aber ich sage euch, selbst wie der Heilige und
Rechtschaffene nicht über das Höchste hinaussteigen
kann, das in jedem von euch ist,
so kann der Böse und Schwache nicht tiefer fallen als
das Niedrigste, das auch in euch ist.
Und wie ein einzelnes Blatt nicht ohne das stille Wissen
des ganzen Baumes vergilbt,
so kann auch der Übeltäter kein Unrecht tun ohne
den verborgenen Willen vn euch allen.
Wie in einer Prozession geht ihr zusammen eurem
göttlichen Ich entgegen.
Ihr seid der Weg und die Reisenden. (…)
Und noch dies, mögen die Worte euch auch schwer
auf dem Herzen liegen:
Der Ermordete ist nicht ohne Verantwortung an seiner
Ermordung,
Und der Beraubte nicht schuldlos an seiner Beraubung.
Der Rechtschaffene ist nicht unschuldig an den Taten
des Bösen,
Und der mit sauberen Händen ist nicht rein von den
Taten des Missetäters.
Ja, der Schuldige ist oft das Opfer des Geschädigten.
Und noch öfter ist der Verurteilte der Sündenbock für
den Schuldlosen und den nicht Beschuldigten.
Ihr könnt nicht den Gerechten vom Ungerechten
trennen und nicht den Guten vom Bösen;
Denn sie stehen zusammen vor dem Angesicht der
Sonne, wie der schwarze und der weiße Faden
zusammengewebt sind. (…)
Und wenn einer von euch im Namen der
Rechtschaffenheit strafen und die Axt an den
Baum des Bösen legen möchte, soll er ihn bis
zu seinen Wurzeln prüfen;
Und wahrhaftig, er wird die Wurzel des Guten
und Bösen finden, des Fruchtbaren und des
Unfruchtbaren, alle ineinander verflochten
im stillen Herzen der Erde.