Pogačars Krönung
Tadej Pogačar hat im Zürich seine Saison gekrönt. Der 26 Jahre alte Slowene wurde vergangenen Sonntag Weltmeister der Profis auf der Straße, und in diesem Jahr hatte er schon die Tour de France und den Giro d’Italia gewonnen. Das Kunststück, diese drei Wettbewerbe in einem Jahr für sich zu entscheiden, schafften vor ihm nur 1974 Eddy Merckx und 1987 der Ire Stephen Roche. Pogačar gewann überlegen, er ist derzeit eine Klasse besser als seine Kollegen.
Ich stand am Straßenrand. Ich bin ja oft in Zürich, da war es klar, dass ich mir das Straßenrennen anschauen würde. Die Fahrer starteten am Vormittag in Winterthur, kamen am Greifensee vorbei und hatten dann sieben 20-Kilometer-Schleifen vor sich: am See entlang, hinein in die Stadt, wieder hinaus und hoch auf und über unangenehme Hügel und wieder hinunter zum See. Das alles sieben Mal. Das war nett gedacht. So hatten die Zuschauer die Chance, die Radprofis öfter zu sehen.
Ich wollte zu diesem Kreisel, der City Circuit hieß. Es ging problemlos. In Richtung Dübendorf traf ich zehn junge Radfahrer, die sagten, in Fällanden käme der Tross vorbei, und dann würden die sieben Runden folgen. Wir warteten an einer Biegung. Da ergreift einen dann das Rennsport-Fieber. Zwei Polizeimotorräder brausten vorbei, zwei Autos, noch einmal 5 Motorräder, dann Beifall von der Ecke, und eine Sechser-Gruppe schoss vorüber, und 2 Minuten später folgte gut gestaffelt das Peloton.
Dann folgte ich den anderen nach Maur, links unten lag der blaue Greifensee, und die Berge strahlten im schönsten Weiß, weil es geschneit hatte.Ich plauderte mit einem Ordner, und von Maur fuhren alle den Berg hoch nach Binz. Alle mit ihren Rennrädern überholten mich auf meinem alten Rad, doch hätte ich mein Rennrad gehabt, hätten sie mich auch überholt. Sie sind eben jünger. In Binz stellte ich mich an die Straße. Gegenüber flatterte die italienische Fahne im Wind, ein paar ältere Italiener mit Perücken lachten, hatten laute Musik laufen, und dann starteten sie auch noch zu einer Polonaise, wenn man das so nennt: Sie bildeten eine Kette, und jeder hatte die Hände auf die Schultern des Vordermanns gelegt.
Dann zischte ein rotes Automobil vorbei, und ein Mann rief: »Noch acht Minuten!« Eine Gruppe aus vier Fahrern kam, und sie hatte schöne zweieinhalb Minuten Vorsprung vor dem Hauptfeld. Das ist schön, reicht aber nie. Den Fahrer vorn hab ich gut erwischt.
Nett waren immer die tapferen Nachzügler aus Ländern, in denen Radsport wenig zählt. Ein Fahrer aus Eritrea kam vorbei, einer von der Insel Mauritius, ein Portugiese und ein US-Amerikaner. Alle kriegten anständig Beifall. Dabeisein ist alles! Durchkommen noch mehr! Bei der nächsten Rnnde lag eine Gruppe von zehn Fahrern vorn, meine ich mich zu erinnern. Auf einem Foto (unten) sind zwei grün gekleidete Fahrer zu sehen; das sah nach Pogačar und seinem Helfer aus.
In der dritten Runde wenig Veränderung: die Zehn vorn. Nicht mal eine Minute danach kam von rechts ziemlich schnell ein giftgrün gekleideter Fahrer mit einem weißen Colnago-Renner. »Das war der Pogačar!« sagte mein Nachbar. Ich zweifelte, ob er den Anschluss schaffen könnte, doch ich irrte mich. Später wurde berichtet, der Slowene habe 100 Kilometer vor dem Ziel einen Ausreißversuch gestartet und das Hauptfeld hinter sich gelassen. Also irgendwo unten in Zürich. Die Belgier, die ja für Remco Evenepoel fuhren, verschliefen das; oder sie dachten, dass der Ausreißversuch nicht lange dauern könne. Es waren ja noch 100 Kilometer bis ins Ziel, eine kleine Ewigkeit!
Die Führenden machten also den Zollikerberg, und mit einer wahnwitzigen Abfahrt (so hieß es) erreichte Pogačar sie und ließ nichts anbrennen, fuhr an ihnen vorbei und holte sich 40 Sekunden Vorsprung. Bei der nächsten Runde und den folgenden war er dann mutmaßlich alleine vorn da oben in Binz und behielt den Vorsprung bis ins Ziel. 273 Kilometer maß die Strecke, mit 4400 Höhenmetern! Ich jedoch hatte mich nach der dritten Runde ins Flachland verabschiedet und vorher noch Blumen geschnitten, um mit dem Strauß jemandem eine Freude zu machen. Eine Frau fotografierte mich, und ich erklärte: »Ich bin ja immer noch ein Blumenkind!«
Den Triumph des Slowenen erlebte ich also zuhause am Live-Ticker mit. Schön war’s trotzdem. Exakt an dem Tag schien die Sonne.
Traurig freilich, dass zwei Tage zuvor Muriel Furrer gestorben war, eine 18 Jahre alte Schweizer Rennfahrerin. Es hatte stark geregnet, und sie hatte sich das sogar gewünscht, weil sie sich da wohl fühlte. Doch auf einer Abfahrt beim Rennen der Juniorinnen ging etwas schief, sie raste in ein Waldstück und wohl an einen Baum. Man brachte sie in die Klinik, doch sie hatte ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten und starb am Freitagnachmittag. Das legte sich dann wie ein Schatten auf die Radweltmeisterschaften in Zürich.
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Angelo aus St. Gallen hat mir übrigens soeben ein Keystone-Foto geschickt, das vier zuversichtliche Schweizer Rennfahrer zeigt, im damals gängigen Wolltrikot. Den Schirm ihrer Kappe haben sie hochgeklappt. Das Foto ist vom 1. September 1946, als in Zürich die erste Strassen-Weltmeisterschaft nach dem Krieg stattfand (nach Varese 1938). Der Rundkurs war 270 Kilometer lang (wie in diesem Jahr), 32 Sportler gingen an den Start, 17 kamen durch. Es siegte der Schweizer Hans Knecht, der damals 33 Jahre alt war. Er starb 1986. Unten sehen wir ein Foto von jenem Rennen.