Im Todestrakt (3)
Das deutsche Fernsehpublikum kennt seit vielen Jahren den Tatort im Ersten. Da geht am Ende alles auf, ein Motiv wird aus dem Hut gezaubert, und nach dem Abspann denkt man nicht mehr daran. Werner Herzog aber tauchte in Fälle ein, die man nur mit Kopfschütteln quittieren kann.
Darlie Routier soll ihre beiden Söhne, 5 und 6 Jahre alt, erstochen haben. Vielleicht wegen einer Lebensversicherung. Sie machte sich immer schön zurecht, wollte immer im Mittelpunkt stehen. Aber so eine blutige Tat einer Mutter? Hank Skinner soll im Drogenrausch seine Partnerin und ihre beiden Söhne getötet haben. Er erinnert sich nicht richtig, hält aber — wie Ms Routier — einen Eindringling für verantwortlich. Blaine Milam ermordete die 13 Monate alte Amora, die er angeblich liebte, weil sie von Satan besessen gewesen sei. Eher war er besessen, vielleicht von seiner psychotischen Freundin Jennifer? Die letzten Minuten der Opfer dieser Menschen möchte man sich gar nicht ausmalen.
Und man will nicht an alle Kriege der Menschheit denken. Nach vielen Millionen zählen die Opfer von Gier, Nationalismus und Fremdenhass, von Ideologie und Repression. Denken wir lieber an die Künstler, die Architekten, die Heiligen, die Freunde der Menschheit. Wir haben viel in uns, leider aber auch viel Dunkles.
Diese Filme gehen einem nahe, man muss über sie schreiben, um die Last loszuwerden. Sind die USA eine gewalttätige Gesellschaft? Die Zahlen sagen es. Dieses Jahr rechnet man mit 17.000 Toten durch Schusswaffen (ohne Selbstmorde). 2023 gab es 49.500 Selbstmorde (die Hälfte durch Schusswaffen) und 100.000 Drogentote, und 42.000 Menschen verloren im Straßenverkehr ihr Leben. Und wir kennen die amerikanischen Gangsterfilme und Thriller. Unter der Oberfläche lauert Aggressivität, die immer auszubrechen droht.
In 42 Prozent der Haushalte gibt es in den USA eine Schusswaffe. Jemand meinte, die beste Suizidprävention sei es, den Zugang zu Schusswaffen zu erschweren. Mord, Selbstmord? Ist der National Rifle Association (NRA) egal, die sich als Vereinigung für Bürgerrechte bezeichnet.
Man würde sich eine Gesellschaft wünschen, die die Gefallenen nicht wegsperrt und auslöscht, sondern sich auch mit ihnen beschäftigt. Die Todesstrafe ist verkehrt, ist wie Altes Testament: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Gefängnisse sind jedoch auch nur eine hilflose temporäre Lösung. Die Verurteilten sitzen ihre Zeit ab. Wenige kümmern sich um sie. Auch Psychiatriepatienten, Alte und die Patienten im Krankenhaus sind allein gelassen. Sie werden bloß verwahrt.
Wir bräuchten für sie alle eine Art von Seelsorge, was aber schon wieder abschreckend klingt. Nein, wir brauchen weder eine neutrale, professionelle Psychotherapie noch süßlichen, stets an die Sünde erinnernden theologischen Beistand. Eigentlich brauchen wir flächendeckend nur das, was ich im Altenheim betrieben habe: Betreuung, Interesse für und Sorge um den anderen, dasein und ein bißchen reden. Man will sich nicht aufdrängen, und institutionalisieren sollten wir das auch nicht. Jeder sollte sich für den anderen interessieren und sich ihm zuwenden.
Auch die Todeskandidaten können noch etwas über sich lernen, und nach meinem Verständnis leben sie nach der Exekution weiter. Auch sie werden ins Licht kommen, aber besser wäre es, sie hätten sich und ihre Motive schon vorher kennengelernt. Dazu bräuchte es jedoch den Willen, die Psyche ernstzunehmen, und es bräuchte viel Zeit. Aber lieber wird verwaltet, werden Beschlüsse gefasst, wird Härte gepredigt. So ist der Mensch.
Bertoklt Brecht schrieb einmal ein langes Gedicht: Von der Kindesmörderin Marie Farrar. Sie war arm, gebar ihr Kind und tötete es in Panik; sie starb »im Gefängnishaus zu Meißen«. Ihre Sünde sei schwer gewesen, ihr Leid groß. Brecht schließt:
Darum, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf‘ von allen.
Die Herzog-Filme als Link:
On Death Row: Interviews mit und Porträts von Douglas Feldman, Joseph Garcia/George Rivas, Robert Fratta, James Barnes, Hank Skinner,