Ifemelu ist traurig
In dem großartigen Roman Americanah (von Chimamanda Ngozi Adichie) fand ich eine Stelle, die schön unsere gestern behandelten Konzepte behandelt. Das Buch erschien 2013 und wurde 2014 ins Deutsche übersetzt. Da mir dieses Buch nicht vorliegt, übersetze ich es selbst. Ich denke, niemand sollte etwas dagegen haben.
Ifemelu, die Nigerianerin, ist traurig. Ihre Freundin Ginika will, dass sie sich anzieht. Keine Reaktion. Da sagt sie:
Ich glaube, du hast eine Depression.
Das ist eine Aussage. Weiter geht es so.
Ifemelu schüttelte den Kopf und drehte sich zum Fenster. Die Depression war etwas, das Amerikaner befiel mit ihrem dauernden Bedürfnis, alles zu einer Krankheit zu machen. Sie litt nicht unter Depressionen, sie war nur etwas müde und etwas langsam. »Ich habe keine Depression«, sagte sie. Jahre später würde sie darüber in ihrem Blog schreiben. (Auf der Internetseite der Autorin gibt es Auszüge aus dem Blog ihrer literarischen Figur zu lesen. Sie betreffen allerdings Ereignisse aus dem Herbst 2014.). »Über das Thema Nicht-amerikanische Schwarze leiden unter einer Krankheit, deren Namen sie nicht wissen wollen.«
Eine Frau aus dem Kongo schrieb eine lange Antwort. Sie war von Kinshasa nach Virginia gezogen, und Monate später, in ihrem ersten College-Semester, war es ihr am Morgen schwindlig, und ihr Herz schlug so heftig, als wollte es sich davonmachen, ihr Magen tat weh und ihre Finger wanden sich. Sie ging zu einem Arzt. Und obwohl sie alle Symptome auf einer ihr vom Arzt ausgehändigten Karte ankreuzte, lehnte sie die Diagnose Panikattacken ab, weil sie nur auf Amerikaner zutraf. Niemand in Kinshasa hatte Panikattacken. Es war nicht einmal so, dass sie einen anderen Namen gehabt hätten, es wurde einfach nicht benannt. Existieren Dinge nur, wenn sie einen Namen bekommen?
Ifemelu wollte Ginika die Geschichte mit dem Tenniscoach erzählen, aber es gelang ihr nicht. Sie fing zu weinen an. Ginika reichte ihr ein Taschentuch. Dann fuhren sie mit dem Auto los.
φ ψ
Ein guter Freund erzählte mir vor kurzem von der Frau seines Schwagers, Brasilianerin, die nach einer Arbeit 8 Monate in der Psychiatrie gewesen sei, wegen Burnouts. Das kann man auch immer mal sagen, Burnout, das sagt etwas und ist vage genug; dann nickt man und meint, etwas zu verstehen. Eine Bekannte aus Chile wurde durch ihre Arbeit im Kinderheim krank, aber es waren wohl die Arbeitsbedingungen, die Kolleginnen vielleicht. Sie litt. Doch sie »somatisierte«: Hatte Magenschmerzen und war appetitlos. Depressionen sind da ein äußeres Mäntelchen; viele Krankheiten kommmen von Umwelteinflüssen her, traurig ist man selten einfach so. Freilich wollen manche Patienten eine Diagnose. Das beruhigt sie. Das Ding hat einen Namen und ist gebannt. Sie wollen eine Diagnose und ein Mittelchen.