Der Jäger Gracchus

Kürzlich habe ich Frau Krüger die Geschichte Der Jäger Gracchus von Franz Kafka vorgelesen, die ich nur dem Inhalt nach kannte. Man sollte zu den Urtexten zurückkehren und sich nicht auf Zusammenfassungen und Inhaltsangaben beschränken; ich jedenfalls lernte etwas dazu. In meinem Beitrag zum Sebald-Wettbewerb spielte der 5 Seiten lange Text auch eine Rolle.

Riva del Garda liegt am Südufer des gleichnamigen Sees. Eines Abends, so erzählt Kafka, taucht eine Barke auf, aus der Bedienstete eine Bahre ausladen, die sie ins Gemeindehaus tragen. Der Bürgermeister von Riva geht hin, und der Mann auf der Bahre bewegt sich. Er hat verfilzte Haare und einen wilden Bart und sagt, er sei der Jäger Gracchus, der im Schwarzwald einer Gemse nachgejagt und von einem Felsen gestürzt sei. Nun sei er tot, aber durch eine Unachtsamkeit des Bootsführers habe der Kahn den Eingang in die Unterwelt verpasst, und nun sei er gezwungen, seit Jahrhunderten alle Länder dieser Welt zu bereisen. — Ob er keinen Teil am Jenseits habe, fragt ihn der Bürgermeister.

Riva, Panorama

»Ich bin«, antwortete der Jäger, »immer auf der großen Treppe, die hinaufführt. Auf dieser unendlich weiten Freitreppe treibe ich mich herum, bald oben, bald unten, bald rechts, bald links, immer in Bewegung. … Nehme ich aber den größten Aufschwung und leuchtet mir schon oben das Tor, erwache ich auf einem alten, in irgendeinem irdischen Gewässer öde steckenden Kahn.«

Wir kennen vielleicht Vor dem Gesetz von Kafka: Ein Mann vom Land will eintreten ins Gesetz, da steht jedoch ein Türhüter. Er versucht ihn zu überreden, ihn zu bestechen und weiß nicht, wie er durchkommen könnte. Als er alt geworden ist, kurz vor dem Tod, fragt er, warum in all den Jahren nie ein anderer hier anklopfte. Weil der Eingang nur für ihn bestimmt gewesen sei! antwortet der Türhüter und sagt: »Ich schließe ihn jetzt!« — Der Landvermesser K. erreicht das Schloss nicht richtig, das er stets vor Augen hat; der andere hat viele Prozesse zu bestehen und meint immer, er stehe vor dem Durchbruch.

In vielen Geschichten Franz Kafkas hat jemand die Erfüllung vor Augen, aber sie zu erleben wird ihm verwehrt. Jemand tut alles und wird nicht erlöst. Es ist wohl eine Parabel auf das Leben, das uns das Glück immer hinhält, ohne es uns (außer ein paar Minuten lang) zu gönnen. Und so groß das Verlangen auch war: Ist das Ziel erreicht, kommt es einem schal vor; man hat sich’s zu schön ausgemalt, die Wirklichkeit hält dem Traum nicht stand. Im frühen Mittelalter hieß es, der ersehnte Gral sei die Suche nach ihm.

 

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