Génie la Folle

Was das wohl heißt? Nun, Génie ist eine Kurzform von Eugénie, und la Folle ist in der französischen Sprache die Verrückte. Es ist ein Roman, in dem die kleine Marie von ihrer Kindheit und ihrer Mutter erzählt, der schweigsamen Verrückten mit den leeren Augen auf dem Dorf in Nordfrankreich, nah am Meer. Die Autorin ist Inès Cagnati (1937-2007). Ihre Eltern stammten aus Venetien, also dem Nordosten Italiens.

Es ist ein sehr poetisches, aber auch abgrundtief trauriges Buch. Alle im Dorf rufen sie Génie la folle. Sie redet nur wenig und wirkt abwesend, ist aber fleißig. Jemand missbrauchte sie. Die Verrückten im Dorf, zumal Frauen, waren immer Sexualobjekte, sie galten wohl nicht als richtige Menschen, und der Mann hatte das Gefühl, er können sich »bedienen«. Génie bekam ein Kind, Marie. Ihr Familie, eine gutsituierte, verstieß sie und verbannte sie in eine Hütte auf dem Berg. Maries Großvater ist gutherzig, seine Frau (Génies Mutter) eine böse Hexe.

Da fällt mir eine Geschichte aus dem Sudan von heute ein. Eine Frau wurde von Rebellen vergewaltigt und wurde schwanger. Der Mann, der dies wissen musste, nahm ihr die Kinder weg und verstieß sie. Im Krankenhaus wollte sie eine Abtreibung, was der Arzt ablehnte.

Und so arbeitet Génie auf den Feldern, und da sie verrückt ist, bekommt sie nur ganz wenig. Manchmal kehrt sie hungrig zurück und weint:
Nichts habe ich bekommen, gar nichts! – Marie kriecht zu ihr und sagt:
Mich, mich hast du. 

Génie sagt:
Lauf mir nicht zwischen den Füßen herum. — Geh schlafen. 
Sie übernachten dann zu zweit, aneinandergedrückt. Marie lernt Pierre kennen, der ihr verspricht, er werde sie mitnehmen dorthin, wo er aufgewachsen sei, zu den Inseln mit blauem Himmel und roten Vögeln. Immer wieder treffen sie sich, am Bahnhof. Doch Pierre verunglückt tödlich mit seinem Flugzeug.
Génie bekommt ein Kalb geschenkt, aber nur, weil es blind ist. Marie streichelt das Kalb und erzählt ihm von seinem Leben. Dann herrscht Dürre, sie haben Hunger und müssen das Tier wegbringen. Rose, das Kalb, findet aber den Weg zurück, fällt allerdings in die Senkgrube und ertrinkt.

Ernest, der Metzger, dringt ins Haus ein. »Du Schlampe, du!« sagt er und tut Marie Gewalt an. Danach ist sie wochenlang krank. Als sie viel später ihre Mutter fragt, wer ihr Vater sei, erwidert diese: »Ernest, der Metzger. Er wollte mich sogar heiraten, ich wollte nicht.«

Die böse Großmutter schreit Génie, ihre Tochter, an: »Ich könnte dich einweisen lassen. Dann würde niemand mehr von dir reden!« Das sagt sie, als Génie zu Antoine ziehen will. Als Bedingung stellt sie ihm, dass Marie eine Schule besuchen darf, ein Pensionat. Das Ende ist fürchterlich traurig, das erspare ich euch.

Inès Cagnati lernte erst in der Schule Französisch. Sie fühlte sich weder als Französin noch als Italienerin, sie sagte, sie sei »nichts« gewesen. Später unterrichtete sie an einem Gymnasium in Paris und veröffentlichte noch zwei Romane. Kurzzeitig lebte sie in Brasilien mit ihrem Mann und später wieder in Frankreich. Sie hatte einen Sohn, das war ihre Familie. Der Roman Génie la folle wurde erst 2022 ins Italienische übersetzt, lang nach ihrem Tod.

Die Autorin besitzt eine sparsame Sprache, die so karg ist wie die wenigen Äußerungen von Génie la folle. Sie protokolliert alles und erwähnt nur die Gefühle der kleinen Marie, die mit ihrer Mutter leben muss inmitten von hartherzigen, eigensüchtigen Menschen, für die eine Verrückte etwas ist wie ein Tier. Doch die poetische Liebe zu Pierre und die Beziehung zwischen Marie und Génie, deren intensive wortlose Liebe, wiegt tausende bedeutungslose, engstirnige Menschen auf, die zu bedauern sind, weil sie das Wichtigste nicht begriffen haben: die Liebe. Die Liebe zu allen Wesen. Die Liebe wird triumphieren!

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