Verrückte und Verrückung

Verrückte schreibt man eigentlich nicht, aber Lea de Gregorio tut es: in ihrem Buch Unter Verrückten sagt man Du. Die Autorin ist noch jung, war zwei Mal in der Psychiatrie und schreibt darüber. Heute ist sie eine erfolgreiche Journalistin. Ihre Krisen waren wohl situationsbedingt und nicht genetisch angelegt, wie viele Leute (und auch Ärzte) es gerne hätten. 

Die Polizei darf einen anscheinend abholen und in die Psychiatrie bringen, wenn die Angehörigen das verlangen. Manchmal kommen sie mit den Kranken nicht zurecht und wollen die Verantwortung abgeben. In der Einrichtung sitzt man dann, und keiner redet mit einem. Die Ärzte kommen einem meistens von oben herab und stellen vorformulierte Fragen. Die Psychiatrie ist — wie Altenheime und Gefängnisse — eine totale Institution, wie das manche Autoren genannt haben. Da gibt man seine Autonomie ab und wird rundum versorgt, aber leider nicht so richtig umsorgt.

Bei Frau de Gregorio löste wohl eine Phase intensiver Arbeit und Überlastung den Zusammenbruch aus; sie hatte tausend Gedanken und ließ sie aus sich heraussprudeln. Eine Ärztin sagte ihr einmal, ein Studium werde sie nicht schaffen. Wieder so eine düstere Prophezeiung aus Ärztinnenmund, die so schnell zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird! Oder man geht gleich gar nicht zur Uni. Zum Glück hat Lea de Gregorio sich nicht daran gehalten, kam im Studium sogar schneller voran als andere.

Was ist normal? fragt sie. Ich habe ja schon öfter Geschichten erzählt, in denen ein kreativer, jedoch eigenwilliger Mensch eingeliefert wird (Links unten, nicht links). Unsere Mitmenschen haben feste Vorstellungen davon, was als normal zu gelten habe. Da wird man schnell hinter vorgehaltener Hand als schräg drauf, nicht ganz normal oder eben verrückt apostrophiert.

Diese Schilderungen führen dazu, dass man sich selbst überprüft. In einer Studie erkannnte man eine Mehrheit von Autoren als bipolar. Ja, als leicht bipolar würde ich mich auch einstufen. Ich mache keine manischen Einkaufstouren oder bleibe nächtelang wach, aber wenn ich gut drauf bin, rede ich alle möglichen Leute an und fühle mich voller Energie und will tausend Sachen anpacken. Dann aber kommt Trauer über frühere Versäumnisse und man ist wochenlang neben der Spur und nicht so selbstverständlich auf der Welt wie sonst.

Dann gibt’s den Beziehungswahn bei manischen Menschen. Ich meine indessen, dass es tatsächlich Koinzidenzen (oder Synchronizitäten) gibt, die mir sagen, dass das Universum so funktioniert. Meine Gedanken lösen eine Reaktion der Umwelt aus, Gleiches kommt zu Gleichem. Das muss man so hinnehmen. Man könnte auch sagen, dass ich mich irre, dass das alles Konstruktionen sind und Illusionen. Dann würde ich meine Theorie erklären müssen.

Die Parapsychologen haben versucht, Konzepte zu beweisen, die auch als abgedreht gelten: Psychokinese und Telepathie. Manch ein/e Forscher/in galt als verrückt und wurde abgelehnt, doch eine Generation später waren seine/ihre Ergebnisse akzeptiert. Oder der Kontakt mit Verstorbenen, durch viele Bücher (meist amerikanische) belegt, aber natürlich Wunschdenken, oder? Diese naturwissenschaftlich geprägte Gesellschaft möchte alles ausschließen, was ihr nicht passt. Wer Unliebsames vertritt, ist eben leicht verrückt.

Übrigens erwähnt Lea de Gregorio auch die Aktion T4, bei der unter den Nationalsozialisten Geisteskranke getötet wurden, insgesamt 200.000 Menschen. Viele wurden auch sterilisiert, und nach dem Krieg gab’s keine Entschädigung dafür. Eine Schande.

Die Ex-Verrückten werden diskriminiert. Oho, sie war mal in der Psychiatrie! Da hat man schon den Stempel weg. Das Buch ist gründlich geschrieben und weist viele Zitate (und Anmerkungen) auf (ist ja Suhrkamp, Frankfurt); gut zu wissen, dass es doch eine Gemeinschaft der Psychiatrie-Kritiker gibt. Seit einiger Zeit dürfen auch frühere Bewohner als Genesungshelfer dort wirken. Das sind dann die »wounded healer«. Jedenfalls hat manipogo immer ein offenes Ohr für unkonventionelle Menschen und Ideen.

Sodom und Gomorrah

Man will tolerant sein. Doch zuviel Toleranz ist auch nicht gut. Der Täter von Magdeburg war zunächst einer, den man früher nur als Querulanten eingestuft hätte. Er soll ja in 8 Jahren 120.000 Posts auf X abgesetzt haben, das wären 5 jeden Tag. Er hat Leute mit Briefen bombardiert, habe »isoliert und aggressiv« gewirkt. Normal war das nicht und ziemlich lästig. Und dann legt sich so einer im geheimen einen Plan zurecht, und plötzlich brechen sich die ganze Wut, der ganze Wahnsinn Bahn und münden in eine entsetzliche Tat, die einen sprachlos lässt. Was für ein Vernichtungswille in einem menschlichen Wesen! Er war also ein latent Verrückter, eine menschliche Zeitbombe. Und hat uns unser Weihnachten kaputtgemacht. Das war noch vor New Orleans und dem Attentat auf der Bourbon Street. Ach, there’s a Moon over Bourbon Street tonight … (sang Sting).

Man liest über die anderen Amokfahrten seit dem 14. Juli 2016, als in Nizza ein Islamist 83 Menschen niederfuhr. Im Dezember darauf der Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin, mit 13 Toten. Fanatisierte fühlen sich im Recht, sie meinen vielleicht sogar, die Welt zu retten, aber in Wirklichkeit sind sie verrückt und haben sich außerhalb der Menschheit gestellt, die das einzelne Leben achtet und schützen will.

Eine eiskalte Verrücktheit ist es auch, ein anderes Land überfallen zu lassen, wobei viele tausend Menschen sterben werden. Im Krieg zwischen dem Irak und Iran starb in 8 Jahren eine Million Menschen, ohne dass ein Meter Landgewinn zu verzeichnen gewesen wäre. Im Ersten Weltkrieg beschossen sich Deutsche und Franzosen (2 Millionen Tote) im Stellungskrieg, die totale Sinnlosigkeit. Und ist ein Quadratkilometer Landgewinn Menschenleben wert? Kein einziges. Im Ukraine-Krieg starben bisher 200.000 Soldaten. Und Putin und Netanjahu holt keiner ab …

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