Silvester bei Raiuno

Blicken wir kurz auf den Silvesterabend bei Raiuno zurück, dem italienischen Haupt-Fernsehsender. Ein Konzert vor vielen tausend Zuschauern fand in Reggio di Calabria statt und wurde live übertragen. Die Italiener waren dabei, und rechts unten lief eine Uhr mit, um Mitternacht nicht zu verpassen.

Wir saßen am Tisch und aßen und tranken, doch die Blicke flogen immer wieder zum Fernseher hin, wo die große Show lief. Ein Moderator und viele singende Gäste, um die herum sich ein Dutzend Tänzerinnen und Tänzer produzierten. Die Mädels waren bildhübsch und trugen rote Stiefel bis übers Knie sowie kurze rote Lackkleidchen, und sie patrouillierten und gestikulierten und verrenkten sich, immer mit diesem leeren Schaufensterpuppenlächeln. Hat den Männern sicher gefallen (mir ja auch).

Die Stars waren vornehmlich aus der alten Garde, die meisten über 70: Ana Oxa, Patty Pravo und Romina Power zum Beispiel. Das sind Frauen, die seit Jahrzehnten auf den Bühnen stehen und ihre alten Songs abliefern, füllige Damen, vermutlich auch gute Kundinnen bei der Schönheitschirurgie,. Sie sangen über die romantische Liebe, und auch die jüngeren Männer taten das: über die Spannung vor dem ersten Date, dem Glücksgefühl, und auch Erlösungs-Fantasien klangen an: Ich rette dich, ich erhebe dich, wir gehören zusammen. Irgendwie religiös das, die Liebesgeschichte ersetzt den Kontakt zur Gottheit, sie ist der große Mythos der westlichen Gesellschaft.

Der Moderator redet ein paar Sätze mit den Stars, man kennt sich, die Zuschauer jubeln, Nebel und Lightshow, und wieder die roten Tänzerinnen mit ihrem stetig angeknipsten Lächeln. Früher hatte ich das alles an mir vorbeilaufen lassen, dieses Mal ging’s mir auf den Geist: »abgeschmackt« hätte Goethe gesagt. Doch die Leute jubeln, das ist ihre Musik, vermutlich sind die meisten auch schon im Rentenalter. Im Fernsehen gibt’s keine Experimente, es ist eine Maschinerie, die den kleinsten gemeinsamen Nenner produziert; keine Experimente, kein Risiko.

Dann um zwei Uhr die Wiederholung eines Interviews von Gigi Marzullo mit Sabrina Ferilli, die damals, 2008, 44 Jahre alt war. Seltsame Inszenierung: Er stand erhöht im blauen Anzug, sie saß etwas tiefer im roten Licht, irgendwie Bordell-Atmosphäre. Man hörte zwar nicht, was sie sagte, doch ihr Gesicht sagte alles. Sie flirtete, sie gefiel sich, sie warb um den Moderator, aber auch um die Millionen Zuschauer. Und jeder meint, sie meint ihn. Jeder fühlt sich angesprochen. Das ist die falsche Intimität des Fernsehens, das Pier Paolo Pasolini immer verabscheut hat. 1975 wurde er umgebracht; er würde sich bestätigt fühlen: Fernsehen ist verlogen und zerstört die Volkskultur.

Heute haben wir, stärker noch, Instagram. Ich habe auch einen Account und schaue manchmal rein. Neben Autounfällen und kuriosen Szenen gibt es viele junge Frauen — leichtbekleidete mit langen Beinen —, die sich produzieren (und prostituieren). Sie spielen mit und zeigen die Frau als Sexualobjekt. Das Internet ist zu einem großen Verbreiter von pornographischen Inhalten geworden, und schon 13-Jährige schauen sie sich an. Man fühle sich, sagten Experten, um Jahre zurückkatapultiert.

Die romantische Liebe für die Älteren, Sado-Maso und Sex für die Jungen. Beides  für sich genommen stimmt nicht, doch mit diesen Erscheinungen müssen wir leben.

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