Thomas Mann okkult

Hatte ich völlig vergessen, das Kapitel Fragwürdigstes gegen Ende des Romans Der Zauberberg von Thomas Mann (1875-1955). Da wird der Meister okkult und verarbeitet die Erfahrungen, die er Anfang der 1920-er Jahre in München machte, als er in Bogenhausen an Séancen von Freiherr von Schrenck-Notzing (1862-1929) teilnahm.

Der Zauberberg bleibt ein wunderbares Buch, das in 100 Jahren von seinem Zauber nichts eingebüßt hat. Wir sind auf Seite 691 meiner Ausgabe, als Hans Castorp, ein »Sorgenkind des Lebens«, einer Séance von Dr. Krokowski beiwohnt (dem wohl Schrenck-Notzing Pate stand). Ellen Brand, ein junges dänisches Mädchen, ist das Medium. Thomas Mann erlebte seinerzeit das junge österreichische Medium Rudi Schneider mit und schrieb darüber in seinem Aufsatz Okkulte Erlebnisse (1924 veröffentlicht). Sicher erlebte er keine Materialisation mit, denn wie er es in dem Roman schildert, könnte das nicht klappen.

Nach einer Stunde mit Musikhören und tiefer Konzentration ist nichts geschehen, außer dass sich zuvor beim Gläserrücken der Kontrollgeist von Elly, Holger, zu Wort meldete. Dann lässt die Spannung etwas nach. Was nun? Was könnte man wollen? Hans Castorp fasst sich ein Herz und sagt:

Ich möchte meinen verstorbenen Vetter Joachim Ziemßen sehen.

Krokowski spricht Geist Holger an und bittet ihn, den Verstorbenen herbeizuführen. Castorp holt die Platte mit Margarethe von Gounod, die Platte läuft, immer und immer wieder, er hält Ellys Hände fest, die in einer Ecke sitzt und sich aufbäumt und sichtlich leidet. Plötzlich stöhnt Frau Stöhr: »Ziem – ßen –!« Eine andere Stimme verkündete: »Ich sehe ihn längst.« Nun im Text:

Es war einer mehr im Zimmer als vordem. Dort, abseits von der Gesellschaft, im Hintergrund, wo wo die Reste des Rotlichts sich fast in Nacht verloren, so daß die Augen kaum noch dahin drangen, zwischen Schreibtisch-Breitseite und spanischer Wand, auf dem gegen das Zimmer gedrehten Besucherstuhl des Doktors, wo während der Pause Elly gesessen, saß Joachim. Es war Joachim mit den schattigen Wangenhöhlen und dem Kriegsbart seiner letzten Tage, in dem die Lippen so voll und stolz sich wölbten. Angelehnt saß er und hielt ein Bein übers andere geschlagen. Auf seinem abgezehrten Gesicht erkannte man, obgleich es von einer Kopfbedeckung beschattet war, den Stempel des Leidens und auch den Ausdruck von Ernst und Strenge wieder, der es so männlich verschönt hatte. 

Hans Castorp hielt ja Elly Brand fest und starrte auf den Besuch.

Es zog ihm die Kehle zusammen, und ein vier- oder fünffaches Schluchzen stieß ihn innig-krampfhaft. »Verzeih!« flüsterte er in sich hinein; und dann gingen die Augen ihm über, so dass er nichts mehr sah. 

Krokowski mahnt ihn, er solle Joachim anreden. Castorp aber

war mit wenigen Schritten bei den Stufen der Eingangstür und schaltete mit knappem Handgriff das Weißlicht ein.
Die Brand war in schwerem Choc zusammengefahren. Sie zuckte in den Armen der Kleefeld. Jener Sessel war leer.

∑ ∑

Und Castorp geht weg, indigniert. Er wollte dem Zauber ein Ende machen, und sein Verzeih deutet an, dass er seinen Wunsch bereute.  Als hätte man den armen Toten gegen seinen Willen hierhergebracht! Materialisierungen gelingen nur, wenn der Geist instruiert ist, denn sich in das Ektoplasma zu kleiden – der Stoff, der aus dem Medium dringt (ihm hat übrigens Schrenck-Notzing den Namen Ektoplasma gegeben!) – will gelernt sein. Wie Thomas Mann es schildert, wäre es nicht möglich. Normalerweise sitzt das Medium im Kabinett, ohne einen Zeugen, und der Stoff strömt heraus, und der Radius, in dem sich Geister bewegen können, ist begrenzt. Bei Thomas Mann sitzt das Medium frei da, und Joachim ist weit entfernt. Er sitzt da wie kurz vor dem Tod; so geschieht das zuweilen bei Death-Coincidences, wenn Sterbende sich sozusagen verabschieden in der Minute ihres Todes, doch materialisiert bewegen sie sich meistens und tragen gewiss keine Uniform.

Thomas Mann hat also das Okkulkte in die Literatur eingebracht, es aber sogleich wieder widerrufen. Dass Castorp das Licht einschaltet, ist grausam. Das gefährdet das Medium aufs äußerste. Thomas Mann will die Klarheit der Aufklärung, nicht das Rotlicht der Geister. Bis zum Ende des Romans wird nicht mehr darauf Bezug genommen.

Über Materialisationen hat sich manipogo oft verbreitet. Statt vieler Links bitte ich euch, oben rechts im Suchfeld Materialisation einzugeben, dann zeigen sich 20 Artikel. Dieses Phänomen ist in den vergangenen 160 Jahren viele Male beschrieben worden. Es existiert, es ist möglich, die Verstorbenen können wiederauferstehen, wenn auch nur 30 Minuten lang. (Das Bild zeigt Friedrich Jürgenson, den ersten Tonbandstimmen-Pionier, in einer Aufnahme aus dem Jenseits.)

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