Leerstellen

Im Psychologiegeschäft von heute werden Verhaltens- und Kognitionstherapie bevorzugt, weil man da etwaige Erfolge (angeblich) messen kann. Das lieben die Wissenschaftsversessenen. Die Psychoanalyse, das Geschöpf Sigmund Freuds, bleibt die Leerstelle und das große Rätsel. Christian R. Gelder hat Anfang Dezember 2024 in der »Sydney Review of Books« darüber geschrieben.

Wie bin ich auf die »Sydney Review of Books« (SRB) gekommen? Bei Roger Behrens (Das Ende der Ästhetik, morgen!) entdeckte ich Mark Fisher und las eine lange Diskussion über seinen Beitrag, an der auch die australische Schriftstellerin Anwen Crawford teilnahm. Sie wies immer wieder auf die Sydney Review hin, die zur Universität der australischen Hauptstadt gehört und deren seit vergangenem September neue Internetseite ein ästhetischer Genuss ist (die vielen Farben!), und die Kritiken und Essays begeistern einen. Davon kommt noch mehr!

Unter den Reviews befindet sich der Beitrag Self Unhelped von Christian R. Gelder. Er behandelte die relativ neuen Bücher Miss-ing von Bruce Fink, einem US-Therapeuten, und Is It Ever Just Sex? von Darian Leader, einem englischen Psychoanalytiker. Beide berufen sich auf Freud und Jacques Lacan.

Bleiben wir gleich bei Is It Ever Just Sex, weil wir ja kürzlich Teil 2 von Sex im Jenseits hatten. Darian Leader führt den Begriff des Scripts ein, das Gelder für sehr gelungen hält. Jeder habe sein persönliches Sex-Script (oder Drehbuch), das von kulturellen Kräften mitgeprägt werde, und die Kollision mit einem anderen Script könne abenteuerlich werden.

Darian Leader geht tief hinein und fragt zur Sexualität: »Warum tun wir das?« Er bemerkt sogar mit britischem Sarkasmus, angesichts von Angst, Stress, Schmerz, Negativität und Verlustangst sei es »absolut bemerkenswert, dass Menschen es überhaupt schaffen, Sex zu haben«. Sollte bei den emotionalen Problemen mit sich und dem Partner die Fähigkeit, Sexualität tatsächlich auszuüben, nicht als eine psychische Störung gelten?

Bruce Fink schreibt in Miss-ing, dass Freuds Konzepte, wie er in 30 Jahren feststellte, den Studenten nicht mehr nahegebracht werden. Jacques Lacan (1901-1981) ist auch ein Außenseiter geblieben. Er schrieb einmal, die Menschen müssten letztlich zur Ansicht kommen, dass sie Wesen seien, denen etwas fehle. (Daher der Titel: Miss-ing.) Der Therapeut (oder die Therapeutin) solle nicht meinen, er/sie wisse mehr als der Klient; er/sie halte einen Raum offen, der sich durch ein Fehlen von Wissen und ein Fehlen von Antworten auszeichne, und dies sporne den Patienten an, seine eigenen Antworten zu finden. Das klingt nicht gerade nach Effizienz, wie man sie heute gerne hätte.

Die Psychoanalyse ist nicht analysierbar und läuft quer zum Weltgetriebe von heute, in dem Gewissheiten und Nachweise gesucht werden. Christian R. Gelder schließt darum so schön:

Mehr als ein Jahrhundert nach der Begründung der Psychoanalyse fällt es jedoch immer noch schwer, über Sexualität zu sprechen, und zu anderen über uns zu sprechen, wird uns nicht einfacher. Und so verkörpern die Bücher von Fink und Learner, was so einzigartig bei Lacan ist: was nicht gesagt werden kann, ins Symbolische zu verwandeln und somit in der Kultur an einem Fehlen festzuhalten, das ihr extrem fehlt. 

 

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