Der Geist von 48

Auch nach Lektüre des Essays The Ghost of 48 von Yumna Kassab weiß man nicht, wofür 48 steht. Die Autorin ist von libanesischer Herkunft (wie El-Zaid), hat 4 Bücher publiziert und ist für ihre »charakteristische allegorische Schräglage« bekannt (schreibt die SRB – die Sydney Review of Books). Da sie über Geister schreibt, muss manipogo das aufgreifen. Gar nicht so einfach.

Durch Herumlesen dämmerte mir, dass mit 48 das Jahr 1948 gemeint sein könnte und in ihr die Nakba. So nennt man die damalige Vertreibung von 700.000 Palästinensern, um dem jüdischen Staat Platz zu schaffen. — Yumna Kassab hat verschiedene Überschriften. Die erste ist

Den Geist aufspüren. Sie las Geistergeschichten und stellte fest, dass viele nach einem Krieg oder einer Katastrophe einsetzen. Sie dachte, sie besäße ihr Haus für sich, doch zuweilen rasselt es in der Ecke. Viele Geister sind um sie, und freundliche sind es nicht.

Den Geist verteidigen. Damit meint sie auch: ihn entschuldigen. Ein besetztes Land gelte als enteignet. Doch eigentlich ist es besetzt (oder besessen?). Wenn wir das hinnehmen und kleinreden, füttern wir dadurch den Geist. Dann holt sich der Eroberer noch mehr.

Den Geist begraben. Wir leben, meint Yumna Kassab, im Zeitalter des Traumas. Viele reden darüber, doch die meisten würden es vorziehen, wenn sie nichts darüber hören müssten. Sie leben ja normal; der Geist gehört zu anderen. Wir haben Angst vor einer Ansteckung.

Den Geist anreden. Mit dem traurigen Geist könne man reden; der böse Geist indessen ist Argumenten nicht zugänglich. Wir müssten eigentlich Energie aufwenden, alles zur Sprache bringen, den Geist exorzieren; doch vielen kommt es bequemer vor, auf einen Retter zu warten.

Den Geist benennen. Die Autorin hat nicht nur einen Geist; ein paar andere sind zurückgekommen, alle dunklen Perioden gehören zusammen. Ihr schlimmster Geist ist abstoßend, monsterhaft, verderbt, bösartig. Er ist das absolut Schlimmste. Die Antwort liege nicht in einer Ausgewogenheit, sondern in einem hypothetischen Anders in einer möglichen Zukunft.

Den Geist aufwecken. Yumna Kassab war in Uruguay. Sie las dabei Enter Ghost von Isabella Hammad. In dem Buch wird im Gaza-Streifen der Hamlet von Shakespeare aufgeführt, in dem bekanntlich der Geist von Hamlets Vater auftritt. Und sie sah The Zone of Interest von Jonathan Glazer überr das Privatleben der Frau des Auschwitz-Kommandanten Höss. Was wäre denn ein anständiges Leben für uns und jeden anderen?

Den Geist normalisieren. Hat es einen Sinn, Hamlet aufzuführen, wenn es da Leute gibt, die dich wegbomben wollen? Können wir sagen, dass uns Traumata interessieren, wenn wir die alltägliche Gewalt einfach so hinnehmen?

Sich an den Geist erinnern. In Uruguay gibt es einen Schweigemarsch jedes Jahr. Er soll an die Opfer der Militärdiktatur erinnern. In Santiago de Chile ist ein Stockwerk des Erinnerungsmuseums dem 11. September 1973 gewidmet, als General Pinochet gewaltsam (für 17 Jahre) die Macht übernahm. Die Autorin (wichtige Stelle):

Die Anwesenheit eines Geistes sollte nie weggewischt werden. Die Vergangenheit kann nicht ungeschehen gemacht werden, indem man sie verdrängt und so tut, als hätte sie nie existiert. Diese Art Unehrlichkeit verstärkt den Zugriff des Geistes auf die Gegenwart und jede mögliche Zukunft.

Auf den Geist anspielen. Die universellen Menschenrechte seien wichtig. Den Schrecken müsse man direkt anschauen; keine Entschuldigung für eine Annäherung von der Seite, für das Verschweigen seines wahren Namens. Einen Horror-Geist für die Zukunft nennt sie noch: Geschildert werde er in einem Artikel der Zeitschrift +972.

∞ Φ ∞

Natürlich geht es um einen Geist im übertragenen Sinn bei Yumna Kassab: um Geschehnisse aus der Vergangenheit und um solche in anderen Ländern, in anderen Menschen. Nur Klarheit und Wahrheit können uns retten. Alle blutigen Diktaturen, alle blutigen Kriege leben als Geister in der Gegenwart fort. Mit einer Amnestie (kollektive Straflosigkeit) rettet man sich nicht; mit Amnesie (Gedächtnisverlust) auch nicht. Alles Böse rächt sich; auch als Geist, als unsichtbares Ressentiment und Traurigkeit.

Gestern wurde in Teilen des Elsass der nationalen Befreiung vom Nazi-Joch (so heißt es wörtlich: le joug des Nazis) gedacht, heute geht es weiter, und morgen findet eine zentrale Veranstaltung in Colmar statt. 80 Jahre danach gibt es also in Turckheim, Sundhoffen, Wettolsheim und Ingersheim und  anderen Gemeinden bei Colmar Aufmärsche von Bataillonen und Umzüge mit Speis und Trank. Bis zum 7. Februar werden auch Debatten und Informationsveranstaltungen über das Elsass 1945 abgehalten.

Bei uns, diesseits des Rheins, sind das Erinnerungen an eine Art graue Vorzeit. Wir haben das »nicht mehr auf dem Schirm«. Mitte Januar sagte mir eine jüngere Ostschweizerin zu dem Thema: »Irgendwann muss einmal Schluss sein.« Deutschland werde geachtet und solle nicht immer daran erinnert werden. Aber was wusste die Gute über das Thema? Ich hätte sagen müssen: Deutschland hat 80 Jahre lang erfolgreich diese Periode verdrängt und ist so nebenher wohlhabend geworden. Hat die ganze Welt unglücklich gemacht, wobei 50 Millionen Menschen starben (nicht zu vergessen den unsinnigen Ersten Weltkrieg, verursacht durch einen dummen Kaiser und debile Generäle!), hat das schlimmste Verbrechen der Menschheit auf dem Gewissen: den millionenfachen Mord an Juden. Nur 10 Prozent der Täter wurden verurteilt, oft zu lächerlichen Strafen.

Was haben wir Heutigen damit zu tun? Schon Kanzler Kohl pries seine »Gnade der späten Geburt«. Täter und Opfer sind alle tot. Es scheint, dass der Geist ins Leere greift. Gelitten haben Millionen andere für uns: ihr Leben lang. Doch finde ich, man müsse als Deutscher immerzu trauern; ein paar Menschen müssten das tun.

 

 

 

 

 

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