Der Tod und das kleine Mädchen
Für den November kann es schon mal ein Märchen mit dem Tod sein. Manfred Kyber (1880-1933) hat ein ganz rührendes geschrieben. Als ich es las, hatte ich nur noch den Wunsch, es euch vorzuschlagen. Es ist ein bisschen lang, darum müssen es zwei Teile sein. Der Titel steht ja oben: Der Tod und das kleine Mädchen. Wir setzen es mal nicht versal, das liest sich immer etwas schlecht.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das war immer sehr einsam. Es sei ein sonderbares Kind, sagten die Großen und es sei dumm und es vertrage keinen Lärm, sagten die Kleinen – und darum spielte niemand mit ihm. Ihr werdet nun gewiss denken, dass das sehr langweilig und sehr traurig für das kleine Mädchen war. Ein bisschen traurig war es manchmal schon, aber langweilig war es gar nicht, denn das kleine Mädchen langweilte sich niemals. Es kamen immer so viele Gedanken zu ihm zu Besuch und diese Gedanken sah es auch alle und sprach mit ihnen, als ob sie leibhaftig vor ihm stünden. Es war eine Sprache ohne Worte und diese Sprache kennen alle, zu denen die Gedanken zum Besuch kommen.
Die Gedanken, die zu dem kleinen Mädchen kamen, waren alle sehr verschieden und sie waren auch ganz verschieden angezogen, wenn man das von einem Gedanken überhaupt sagen kann. Es waren traurige Darunter in grauen Kleidern, frohe in rosenfarbenen mit goldenen Sternen darauf, rote und lustige, die Fratzen machten, und blaue, die von Märchenländern erzählten und deren Augen immer irgendwo hinaus in eine weite Ferne sahen.
Es muss sehr still um einen herum sein, wenn so viele Gedanken zu einem zum Besuch kommen. Darum ging das kleine Mädchen am liebsten ganz allein auf den Dorffriedhof und setzte sich zwischen alle die Gräber unter den hohen Bäumen. Das kleine Mädchen kannte alle die Gräber mit Namen und es war wirklich merkwürdig zu beobachten, welche Gedanken an den verschiedenen Gräbern zum Besuch kamen und an welchen Gräbern die Gedanken fort blieben. Es war, als ob es ihnen da nicht recht gefiele.
Lehrreich und unterhaltend war es auch, was die Gedanken an dem einen oder anderen Grabe sagten, wenn sie zum Besuch kamen. Was sie sagten, war nicht immer schmeichelhaft für die Toten in den Gräbern. Abe das kleine Mädchen konnte daraus sehen, an welchen Gräbern man am besten sitzen und sich mit seinen Gedanken unterhalten konnte.
Als nun das kleine Mädchen wieder einmal auf dem Friedhof saß und sich von seinen bunten Gedanken besuchen ließ, da kam eine Gestalt im schwarzen Gewande durch alle die Grabhügel geschritten und ging gerade auf das kleine Mädchen zu. »Bist du auch ein Gedanke?«, fragte das kleine Mädchen. »Aber du bist so sehr viel größer als die Gedanken, die mich sonst besuchen, und du bist so schön, wie keiner von meinen vielen Gedanken es jemals war.« Die schöne Gestalt im schwarzen Gewand setzte sich neben das kleine Mädchen.
»Du fragst ein bisschen viel auf einmal. Ich bin wohl ein Gedanke – und doch wieder auch etwas mehr. Es ist für mich gar nicht so leicht, dir das zu erklären. Sonst täte ich es gewiss gerne.« – »Bemühe dich nicht meinetwegen«, sagte das kleine Mädchen, »ich brauche dich gar nicht zu verstehen. Es ist auch sehr schön, dich bloß anzusehen. Aber ich möchte gerne wissen, wie du heißt. Meine Gedanken sagen mir immer alle, wie sie heißen, und das ist sehr lustig.«
»Ich bin der Tod«, sagte die schöne Gestalt und sah das kleine Mädchen sehr freundlich an. Man musste Vertrauen zum Tod haben, wenn man ihm in die Augen sah, denn es waren schöne und gute Augen, die der Tod hatte. Solche Augen hatte das kleine Mädchen noch nicht gesehen. Das kleine Mädchen erschrak auch gar nicht. Es war nur sehr erstaunt und überrascht und fast freute es sich, dass es so ruhig neben dem Tod sitzen konnte.
»Weißt du«, sagte es, »es ist so komisch, dass alle Menschen Angst haben, wenn sie von dir sprechen, wo du so nett bist. Ich möchte gerne mit dir spielen. Es spielt sonst niemand mit mir.« Da spielte der Tod mit dem kleinen Mädchen – wie zwei Kinder miteinander spielen, mitten unter den Gräbern auf dem Friedhof. »Wir wollen Himmel und Erde bauen«, sagte das kleine Mädchen, »hoffentlich verstehst du es auch. Wir machen den Himmel aus den hellen Kieseln und die erde aus den dunklen. Du musst aber fleißig Steine suchen.«
Der Tod suchte kleine Steine zusammen und er gab sich viele Mühe, um das kleine Mädchen zufriedenzustellen. »Jetzt haben wir genug«, sagte das kleine Mädchen. »Ich finde, dass du sehr schön spielen kannst. Willst du nun den Himmel bauen und ich die Erde oder umgekehrt? Mir ist es einerlei. Du kannst dir aussuchen, was dir mehr Spaß macht. Ich erlaube es dir.« – »Ich danke dir sehr«, sagte der Tod, »aber siehst du, ich bin kein Kind mehr und verstehe nicht mehr so zu bauen, wie man das als Kind versteht. Du bist ja noch ein Kind und ich denke, du baust dir deinen Himmel und deine Erde selber. Aber ich will dir bei beidem helfen.«
»Das ist nett von dir«, sagte das kleine Mädchen und baute sich seinen Himmel und seine Erde aus den bunten Kieselsteinen. Der Tod sah zu und half dem kleinen Mädchen dabei. »Jetzt pass auf«, sagte das kleine Mädchen, »hier ist der Himmel und drin wohnt der liebe Gott und hier ist die Erde und da wohne ich. Nun musst du auch noch eine Wohnung haben. Aber ich weiß ja noch gar nicht, wo du wohnst?«
»Ich wohne zwischen Himmel und Erde«, sagte der Tod, »denn ich muss ja die Menschenseelen von der Erde zum Himmel führen.« – »Richtig«, sagte das kleine Mädchen, »dann kriegst du eine Wohnung aus hellen und dunklen Steinen zusammen. Es soll eine feine Wohnung werden, du wirst schon sehen.« Der Tod freute sich und sah zu, wie das kleine Mädchen ihm seine Wohnung baute. »Höre mal«, sagte das kleine Mädchen, »du hast doch eben gesagt, dass du die Menschenseelen von der Erde zum Himmel führst. Erzähle mir mal ein bisschen davon, wie du das machst – und warum müssen wir überhaupt sterben? Kann man denn nicht einfach in den Himmel ‚rüberlaufen?« Als das kleine Mädchen das fragte, läuteten die Glocken Feierabend.
Morgen Teil 2.