Graf Dracula: eine Analyse
Bei Durchsicht meiner Akten kam ich auf eines meiner vielen Projekte, die nur angefangen, aber nie beendet wurden. Der Titel war Geister in der Unterwelt. Und gleich am Anfang fand ich eine kleine Abhandlung über Dracula und den Vampirismus, den ich nun anbieten möchte. Der Film läuft seit 30. Oktober in Deutschland.
Der Autor Bram Stoker soll in den Dubliner Katakomben den Einfall zu seinem »Dracula« gehabt haben. Dracula schläft ja tagsüber in seinem Sarg und kommt nur des nachts an die Oberfläche. Manchmal nimmt er auch die Form von Hunden, Wölfen oder Fledermäusen an. Er trinkt das Blut seiner Opfer. Dracula ist das exemplarische Wesen der Dunkelheit und des Untergrunds. Der Neurologe Juan Gómez-Alonso aus Vigo (Spanien), ein Fachmann für Viruserkrankungen des Gehirns, hat nach einem Dracula-Film erstaunliche Parallelen zwischen dem Vampirismus und der Krankheit »Rabies« festgestellt. Sie böte eine Erklärung für die Entstehung der Legende um den rumänischen Adeligen.
Die ersten Symptome bei Rabies sind Appetitverlust und Fieber. Der Virus greift bald das zentrale Nervensystem an. Muskelkrämpfe in Gesicht und Hals können das Aussehen des Erkrankten einem grimmigen Hund gleichen lassen. Dabei kann das Opfer nicht schlucken und erbricht oft Blut. Helles Licht, Wasser und Spiegel können zu Anfällen führen. Manche an Rabies Leidende überkommen nicht selten gewalttätige Impulse, und dann überfallen und beißen sie andere. Natürlich übertragen sie dadurch das Virus – und ein neuer »Vampir« ist entstanden. Rabies tritt bei Männern sieben Mal häufiger als bei Frauen auf.
Männer können dann schmerzhafte und tagelang andauernde Erektionen haben. Gómez-Alonso hat auch Beweise für eine Rabies-Epidemie unter Hunden und Wölfen in Ungarn zwischen 1721 und 1728 gefunden, also die Zeit, als sich Vampir-Geschichten ausbreiteten. Es liegt auf der Hand, dass solche Vorkommnisse leicht in Volkssagen Eingang finden.
Vor 180 Jahren brachte John William Polidori, Leibarzt des Dichters Lord Byron, die Geschichte »The Vampyre« zu Papier und auf den Markt: ein Paukenschlag. Gottfried August Bürger in seiner Novelle »Lenore« (1774) und Goethe in seiner »Braut von Korinth« machten sich das Thema zu eigen, und 1897 erschien dann Stokers bis heute unerreichte Vampir-Saga: Dracula. Hunderte von Filmen und Hunderte Bücher ranken sich um den Adeligen aus Rumänien, der tags im Sarg schläft und nachts das Blut junger Frauen trinkt, um Kraft zu tanken.
Der historische Dracula wurde um 1430 als Sohn des Vlad geboren und regierte angeblich drei Mal die Walachei, das südliche Rumänien. Als ihn der ungarische König Sigismund in den Drachenorden aufnahm, hieß er Dracula: Sohn des Drachen. Der Vampir, ein Wort aus dem Serbokroatischen, tauchte zum erstenmal 1734 in der Erzählung The Travels of Three English Gentlemen auf. Zweihundert Jahre später waren Dracula und Vampir schon Namen für den Hausgebrauch; doch Psychologen und Soziologen machten sich erst vor 30 Jahren ernsthaft Gedanken, womit die Anziehungskraft des Fürsten der Finsternis erklärt werden könne.
Der Vampir vereint den Durst nach Blut mit dem Hunger nach dem anderen Geschlecht; mit seinen hervorstehenden Eckzähnen dringt er in sein Opfer ein. Maurice Richardson stellt ihn als nekrophile, oral-sadistische Kreatur mit großem Appetit dar. Joseph Bierman wies auf die »unbewusste Verbindung zwischen Schlafen, Essen und Gegessenwerden« hin, James B. Twitchell sprach von einem »Austausch von Energie«. Bram Stoker habe in Dracula ein Ventil für seine unterdrückte Sexualität gefunden und die Defizite der viktorianischen Gesellschaft porträtiert, meinen andere. Und Draculas Verfolger töteten in dem Buch den »bösen Vater«, der ihnen die Frauen raube.
Dracula schläft tags im Sarg, geht nachts auf Raubzug, kann sich verwandeln, weicht zurück vor geweihten Hostien, Kreuzen, Weihwasser, dem Tageslicht und Knoblauch. Strenge Spielregeln für das Böse. James Craig Nolte, ein US-Historiker, faßte einmal zusammen:
Der Vampir dient als Metapher für die dunkle Seite der menschlichen Emotionen … Der Vampir repräsentiert die Wünsche, die eine zivilisierte Gesellschaft verweigert. Er will – und bekommt – Sex, Blut und ewiges Leben. Wer könnte mehr wollen?